Binge-Gaming und die Spiel-Spieler-Beziehung 4

Die Wartezeit auf ein Spiel ist meist lang, die Beschäftigung mit dem Spiel hingegen oft sehr kurz. Viele Spieler beenden neuerschienene Werke häufig innerhalb kürzester Zeit. Warum Binge-Gaming ein Problem für die Spiel-Spieler-Beziehung darstellt und welche Gamedesign-Ansätze das Problem lösen können.

Binge-Gaming: Viel Wartezeit, wenig Spielzeit

Kaum etwas ist für Videospieler aufregender, als der Zeitraum zwischen Ankündigung und Veröffentlichung eines neuen Spiels. Monate- und manchmal jahrelang fiebert die Community dem Augenblick entgegen, an dem das vorbestellte und heruntergeladene Spiel pünktlich um Mitternacht gestartet werden kann. Dieser Zeitraum der Ungewissheit wird meist mit Hoffen und Bangen überbrückt. Wird das Spiel der erhoffte Heilsbringer? Oder stellt es sich am Ende doch als vercasualisierter Grafikblender heraus, als trojanisches Pferd, das lediglich existiert, damit es mit Lootboxen und Mikrotransaktionen zu weiteren Griffen ist Portemonnaie verleitet?

In dieser quasi-vorweihnachtlichen Zeit saugen die Spieler jeder Infoschnipsel auf, schauen jede Trailer und jede Klickstrecke an und diskutieren in Foren und Kommentarspalten lang und breit über die noch gar nicht erhältlichen Titel. Im Extremfall, wie bei Elden Ring, behilft sich die Community mangels offizieller Informationen einfach selbst und gestaltet mit Fan Fiction und Fan Arts schlicht ihre eigene Lore zum Spiel – irgendwie muss das Feuer der Vorfreude schließlich Nahrung erhalten.

Sekiro: Shadows Die Twice
Sekiro: Fünfzehn Monaten warten für drei Tage spielen.

Doch sobald das langersehnte Spiel endlich in den Händen gehalten wird, kann es manchen Käufern gar nicht schnell genug gehen. In einer einzigen langen Binge-Gaming-Sitzung, kaum unterbrochen durch Bedürfnisse des täglichen Lebens wie Schlaf oder Essen, wird dem Abspann entgegen gespielt. Oft sieht man in sozialen Netzwerken bereits nach einem verlängerten Wochenende die Berichte stolzer Spieler, welche die Credits gesehen haben. Neuerscheinungen wie »Borderlands 3«, »Death Stranding« oder »Sekiro: Shadows Die Twice«, die zwanzig, dreißig, manchmal vierzig Stunden Spielzeit benötigen, werden innerhalb weniger Tage durchgespielt und erhalten so ein antiklimaktisches Ende ihres Lebenszyklus, der viel vom Hype und weniger durch Spielen geprägt war.

Eindrücke reifen lassen und verarbeiten

Auch ich bin schon in die Falle des Binge-Gaming getappt. Das früheste Beispiel, an das ich mich erinnere, ist »The Legend of Zelda: A Link to the Past«, das ich innerhalb von drei Tagen beendet habe. Tagelang nichts anderes zu tun, als sich in einer unbekannten virtuellen Welt aufzuhalten, ist aufregend. Und natürlich beschäftigte auch ich mich lieber zu viel als zu wenig mit einem neuen Spiel. Doch obwohl Videospieler den Augenblick der maximalen Beschäftigung mit dem Spiel genießen, berauben sie sich mit Binge-Gaming einer wichtigen Komponente der Spieler-Spiel-Beziehung: Emotionale Verbindung. Um ein Medienprodukt wirklich zu schätzen, genügt es nicht, es lediglich zu konsumieren. Wichtig ist auch Distanz zum Produkt und Zeit zum Reflektieren des Erlebten.

Zwar drängt in A Link to the Past die Zeit, dass heißt aber nicht, dass man sich als Spieler nicht die Freiheit nehmen sollte, das Spiel zu unterbrechen.

Schließt man sich an einem freien Wochenende ohne Verpflichtungen mit seinem neuen Spiel zuhause ein, kann man problemlos Spielzeiten von zehn bis fünfzehn Stunden pro Tag erreichen. Selbst umfangreiche Titel wie »Red Dead Redemption 2« halten mit dieser Schlagzahl kaum mehr als ein paar Tage durch, nur die wenigsten Titel bieten noch mehr Inhalt. Für Schlaf, Körperpflege, Essen und ähnliches bleiben dann noch neun Stunden – das genügt und dürfte, wenn man diese Marathonsitzungen lediglich sporadisch abhält, auch kaum ungesünder sein, als eine Nacht im Club. (Wir sprechen hier nicht von problematischen Fällen, in denen sich Menschen von ihrer Umgebung isolieren, sondern von üblichen und sozial-akzeptierten Auswüchsen des Fandoms, wie ihn etwa auch Besucher größerer Musikfestivals gelegentlich nachgehen.)

Doch es ist vollkommen unmöglich, die Menge an unterschiedlichen Eindrücken, Entwicklungen, Ideen und Konzepten, die in einem Videospiel in diesem Zeitraum aufgeworfen (und möglicherweise auch wieder verworfen) werden, zu verarbeiten. Über bestimmte Dinge muss man die sprichwörtliche Nacht schlafen. Man muss sie sacken lassen, sich Zeit geben, um darüber nachzudenken. Das kann man nicht leisten, wenn der Kopf bereits mit der nächsten Zwischensequenz und neuen Eindrücken beschäftigt ist, welche die Alten verblassen lassen und schlussendlich überschreiben.

Wie sehr sich die emotionale Verbindung ändern kann, wenn man sich nur genügend Zeit mit einem Spiel gibt, kann ich etwa an »The Legend of Zelda: Link’s Awakening« feststellen. Anders als »A Link to the Past« auf dem Super Nintendo habe ich den Gameboy-Nachfolger als Kind nicht innerhalb weniger Tage beendet, sondern über einen Zeitraum von mehreren Wochen gespielt. So hatte ich die Gelegenheit, das Spiel ausführlich kennen und schätzen zu lernen. Deshalb ist mir Links Abenteuer auf der Insel Cocolint auch bis heute deutlich näher als die Reise in die Schattenwelt auf dem Super Nintendo. »Link’s Awakening« habe ich schlicht die Möglichkeit gegeben, mehr Eindruck zu hinterlassen.

Der Start einer langen Reise in Link’s Awakening

Ähnliches erlebe ich auch heutzutage: In den vergangenen zehn Wochen habe ich einhundert Stunden lang »Dragon Quest XI S« gespielt. Wenn man über einen so langen Zeitraum dieselbe virtuelle Welt besucht, wird das Spiel zum Teil des eigenen Lebens. Macht man mal ein paar Tage Pause vom Spielen, freut man sich, die liebgewonnenen Charaktere wiederzusehen. Gleichzeitig wird die Spielwelt zum zweiten Zuhause, in dem man sich auskennt, wie man es auch am Ende eines längeren Urlaubs im Ferienort tut. Erst durch die langanhaltende Beschäftigung mit dem Spiel über können bestimmte Emotionen entstehen und reifen, über die sich das Spiel anschließend im Gedächtnis verankert.

Gamedesign-Lösungsansätze: Ausstiegspunkte

Idealerweise unterstützt der Gamedesigner den Spieler darin, nicht zu schnell durch die Geschichte zu eilen. Hilfreich ist etwa, dem Spieler an günstigen Stellen die Möglichkeit zu geben, aus dem Spiel auszusteigen. »Astral Chain« bietet nach jedem inszenatorischen Höhepunkt am Ende eines Levels an, das Spiel zu speichern und zu beenden. Bevor eine weitere Zwischensequenz das nächste Level einleitet und den Kreislauf der Dramaturgie erneut startet, wird dem Spieler so die Gelegenheit zum durchatmen gegeben.

Astral Chain bietet am Endes jeden Levels die Möglichkeit zum speichern und beenden, bevor der Kreislauf der Dramaturgie erneut gestartet wird.

Auch Spiele wie »The Elder Scrolls V: Skyrim« und »Death Stranding« besitzen einen natürliche Spannungsbogen, der durch die Rückkehr in die schützenden Mauern einer Stadt beendet werden kann. In »Skyrim« kann ich gesammelte Gegenstände verkaufen, mich in einem Gasthaus zur Ruhe legen und so ein rundes Ende für das gerade Erlebte finden, ohne direkt zurück in die Wildnis, in den nächsten Dungeon, zum nächsten Questziel zu eilen. Auch in »Death Stranding« befinde ich mich als Sam Porter Bridges ständig auf dem Weg zum nächsten Außenposten der Zivilisation. Dort angekommen, kann ich ihn zu Bett schicken: So beschließe ich dieses Abenteuer und kann auch mir Ruhe gönnen, bevor ich am nächsten Tag weiterziehe. »Astral Chain«, »Death Stranding«, »Skyrim« und einige weitere Spiele lassen so einen dramaturgischen Abschluss zu. Dem Spieler wird eine Tür zurück in die wirkliche Welt gezeigt, durch die er treten kann, ohne aus dem Spiel gerissen zu werden, wie von einem Wecker aus einem Traum.

Viele Spiele jedoch begehen den Fehler, nach einem inszenatorischen Höhepunkt unweigerlich auch die Einleitung der nächsten Szene zu zeigen, bevor der Spieler die Möglichkeit zum Beenden hat. Beispiel »Tales of Vesperia«: Nach etwa zehn Stunden Spielzeit wird die Party beim Verlassen eines Dungeons verhaftet und die wahre Identität eines Partymitglieds enthüllt. Doch statt dem Spieler dies als Ausstiegspunkt und Cliffhanger für die nächste Spielesitzung anzubieten, wird die Situation unweigerlich aufgelöst. Ohne dass der Spieler eingreifen kann, wird die Party in die nächste Stadt transportiert und vom Thronerben selbst begnadigt. Doch selbst jetzt kann das Spiel noch nicht beendet werden: Auf dem Weg zum Gasthaus führt das Spiel in einem Tutorial eine weitere Kampfmechanik ein, erst dann erlaubt das Spiel das Speichern und Beenden.

Auch das gerade noch lobend erwähnte »Death Stranding« tritt das ein oder andere Mal in diese Falle. Zwar kann man Sam meist nach der Abgabe einer Lieferung in den Ruheraum schicken und das Spiel dort beenden, doch hin und wieder erlauben die Autoren gerade nicht, mich direkt aus dem Spiel zu verabschieden. Stattdessen spinnt »Death Stranding« bei einigen Gelegenheiten automatisch die Handlung weiter, etwa durch Traumszenen, holographische Übertragungen oder Figuren, die unvermittelt den Raum betreten. Nicht ganz perfekt verhält sich in dieser Hinsicht auch »Luigi’s Mansion 3«, welches nicht im Aufzug speichert, mit dem Luigi in ein neues Stockwerk reist. Stattdessen erfolgt die automatische Speicherung erst nach dem Betreten einer neuen Etage. Als Spieler erhascht man so bereits einen kleinen Ausblick auf das Thema des kommenden Levels und wird schnell dazu verleitet, doch noch weiterzuspielen. Hier würde es bereits helfen, wenn der Spieler die Türen manuell öffnen müsste. Der neutrale Aufzug würde so zum Ausstiegspunkt des Spiels.

Luigi muss erst den Aufzug verlassen, dann wird gespeichert. Dabei wäre der Aufzug als neutraler Ort der ideale Ausstiegspunkt.

Statt also auf dem Höhepunkt einen Cliffhanger zu inszenieren oder aber einen Handlungsbogen vollständig zu beenden, leiten Spiele oftmals bereits die nächste Episode ein, bevor die Möglichkeit zum verlassen der virtuellen Welt besteht. Der Spieler wird so dazu angehalten zu handeln und beeinträchtigt dadurch auf lange Sicht die emotionale Bindung zum Spiel. Ideale für die Spiel-Spieler-Beziehung sind daher zwei Komponenten: Einen Spieldesigner, der den Wert von Unterbrechungen erkennt und diese anbietet und einen Spieler, der sich genügend unter Kontrolle hat, dieses Angebot auch anzunehmen oder sich Unterbrechungen notfalls selbst zu schaffen.

Hier müssen Videospiele von Fernsehserien lernen: Zwar existiert auch im Zeitalter von Videostreaming die Versuchung des Zuschauers, nach dem Cliffhanger einer Episode noch die nächste Folge zu gucken. Doch die Entscheidung zum Weiterschauen trifft der Zuschauer und nicht die Serie. Das definierte Ende hilft, den Absprung zu schaffen und Luft zu holen. Die rote Hochzeit in Game of Thrones war gleichermaßen Höhepunkt und Ende der Folge und wurde gerade nicht dadurch überschattet, dass weitere zehn Minuten Sendezeit den Handlungsbogen fortführten. Dieses Verständnis für Dramaturgie müssen auch Spiele entwickeln – und die Spieler müssen sie annehmen.

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Sebastian spielt auf der Playstation 4 samt PSVR und der Nintendo Switch aktuelle Blockbuster und Indies.

4 Comments

  1. Bekommt einfach Kinder, ich schwöre euch, das Problem mit dem schnellen durchzocken oder schnellen Serien gucken hat sich ein für allemal erledigt. Ich spreche da aus Erfahrung * GG*

    1. Angesehen davon, dass sich Reviews immer gleich lesen, ist das mit ein Grund, weshalb ich vom klassischen Review weg möchte: Man hastet sich durch, nimmt sich selbst den Spaß und am Ende ist man trotzdem deutlich später als die großen, die drei Wochen eher ihr Muster bekommen – und dann liest es niemand. Da hat keiner was von.

  2. Das mit den Ausstiegspunkten finde ich interessant. Die sollte jedes Spiel haben. Stattdessen wird oft, wie in TV-Serien, durch Cliffhanger und Überleitungen versucht, die Spieler ständig bei der Stange zu halten.
    Auf der anderen Seite kann ich aber auch nachvollziehen, dass man in Zeiten von Überangebot und Piles of Shame nicht riskieren möchte, dass Spieler eine Pause einlegen und vielleicht nicht mehr zum Spiel zurückkehren.

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