Control ist eines dieser Spiele, die viel Raum für Interpretation lassen – auch weil das Spiel sehr gezielt damit spielt, ob die paranormalen Geschehnisse wirklich alle real, oder doch nur Einbildung sind. Meine Interpretation lautet: Sie sind beides, denn in Control erleben wir Jesse Faden auf ihrer therapeutischen Reise. Und da sich diese These nicht ohne Spoiler weiter ausführen lässt: Spoilerwarnung!
Die Therapie
Jesses Reise in Control lässt sich als Therapie dafür lesen, den Tod der eigenen Eltern sowie den komatösen Zustand des eigenen Bruders zu verarbeiten und beides letztendlich zu akzeptieren. Dass das Ganze dabei in einem fantastischen Szenario (fantastisch im Sinne der Fantastik) stattfindet, deute ich als Realitätsflucht – ähnlich wie es etwa auch in Filmen wie Sucker Punch oder Pans Labyrinth gezeigt wird.
Control beginnt damit, dass Jesse das Federal Bureau of Control betritt, oder: sie hat erkannt, dass sie therapeutische Hilfe benötigt, um ihre inneren Dämonen zu bekämpfen. Die erste Person auf die sie dabei trifft ist der Hausmeister Ahti. Ahti taucht im Laufe des Spiels immer wieder auf und gibt Jesse nie konkrete Hinweise, sondern immer nur Stupser in die richtige Richtung – er ist der Therapeut und wie ein Spirit Guide. Besonders deutlich wird das, wenn es auf das Aschenbecherlevel zugeht: Jesse kann das Level ohne Ahtis Hilfe nicht bewältigen. Er zeigt ihr zwar, wo sie hingehen muss, den Weg dorthin muss sie allerdings selber gehen. Am Ende dieses Weges findet Jesse ein therapeutisches Mittel, dass es ihr ermöglicht, das Aschenbecherlevel letztendlich vollkommen selbstständig zu bewältigen: Musik.
Bewältigungsstrategien
In einer Therapie lernen Patienten unterschiedliche Bewältigungsstrategien, um mit bestimmten Situationen zurechtzukommen. So wie etwa Autist Sam in der Netflix-Serie Atypical das Tragen von Kopfhörern mit aktiver Geräuschunterdrückung als Werkzeug kennenlernt, lernt Jesse Musik als Bewältigungsstrategie, um die Blockade, die sich in ihrem Kopf als Aschenbecher-Level manifestiert, zu überwinden. Nachdem Aschenbecher im Spiel immer wieder auftauchen und Zachariah Trench fast immer rauchend dargestellt wird, wäre eine mögliche Deutung, dass der Tod der Eltern irgendwie mit Zigaretten zusammenhängt – etwa Lungenkrebs oder eine Zigarette, die ungewollt ein Feuer auslöst.
Auch über die Musik hinaus lassen sich Jesses Fähigkeiten sowie die Pistole als therapeutische Werkzeuge deuten: Die Fähigkeit zu fliegen lässt sich etwa als Werkzeug, Dinge aus einer andere Perspektive zu betrachten, deuten. Die Fähigkeit, Gegner mit Gegenständen abzuwerfen als Werkzeug negative Gedanken gar nicht erst zuzulassen. Der Schutzschild als Werkzeug um negative Gedanken, die sich anbahnen, doch noch erfolgreich abzublocken. Die Pistole wiederum lernt Jesse, nach einem ersten Treffen mit Ahti, als erstes Mittel gegen die eigenen Dämonen kennen und wie die Projektil-Fähigkeit ist sie die effektivste Methode, die inneren Dämonen zu bekämpfen. All diese Fähigkeiten und Werkzeuge helfen Jesse dabei Kontrolle über ihr eigenes Leben zurückzuerlangen – oder im Englischen: Control.
Auch die Gewandelten Gegenstände und die Objekte der Macht passen in das Bild der Therapie: Sie sind Gegenstände, die auf die ein oder andere Art eine wichtige Rolle in Jesses Leben gespielt haben. Sie sind Ankerpunkte, die es ihr entweder ermöglichen Bewältigungsstrategien zu entwickeln oder die ihr dabei helfen stärker und resilienter zu werden. Das Bändigen eines dieser Gegenstände ist damit gleichzusetzen mit der Aufarbeitung eines besonders schönen oder traumatischen Erlebnisses aus der Vergangenheit, um dadurch als Person gestärkt wieder herauszugehen. So wie im Spiel die Gegenstände ihre Spezialfähigkeiten durch ein Altered World Event erhalten, entsteht die Bedeutung in der Wirklichkeit durch ein bestimmtes Ereignis in Jesses Leben.
Polaris und die Selbstakzeptanz
Auf der gesamten Reise seit dem ultimativen traumatischen Erlebnis, dem Unfall der zum Tod der Eltern und dem komatösen Zustand des Bruders geführt hat, wird Jesse von Polaris begleitet. Über lange Zeit des Spiels sieht Jesse Polaris als einen externen Faktor an: Sie sei diejenige, die sie ins Federal Bureau of Control gebracht hätte, sie sei diejenige, die wisse wo es langgeht.
Bei einer Therapie ist es völlig normal, dass es Höhen und Tiefen gibt, und es auch mal Tiefen geben kann, die einem den Boden unter den Füßen wegreißen können. Ein solches Tief ist bei Jesse die Zerstörung von Hedron und damit einhergehend ihre Angst Polaris verloren zu haben. Es ist dieses Tief, das Jesse letztendlich realisieren lässt, dass Polaris keine externe Entität ist, sondern nur ein Teil von ihr. Ein Teil, der weiß was ihr guttut und der weiß, welchen Weg sie gehen muss und gehen möchte. Sie akzeptiert damit, dass es nach wie vor positive Dinge in ihrem Leben gibt und sie diese mit beeinflussen kann.
Die Überwindung
Im Laufe ihrer Therapie (und damit im Spiel) wird Jesse außerdem konstant von zwei Männern begleitet: Zachariah Trench und Dr. Casper Darling. Beide stehen metaphorisch für die eigenen Eltern: Während Trench symbolisch für die Erziehung und die vermittelten Werte steht, an die sich Jesse nach dem Tod Stück für Stück zurückerinnert, symbolisiert Darling das Überwinden des Verlusts. In nahezu allen Videos ist Darling voller Lebensfreude. Wenn er sich im letzten Video in den Tod verabschiedet, dann hat auch Jesse den Tod der Eltern akzeptiert und kann ihre volle Aufmerksamkeit nun ihrem letzten Trauma zuwenden: Dylan.
Control hat keinen finalen Bosskampf und der letzte Spielabschnitt ist, besonders im Vergleich zu manchen wirklich schweren Stellen, geradezu absurd einfach. Das beschreibt die Stärke, die Jesse bereits gewonnen hat und die es ihr ermöglicht diese letzte Hürde zu nehmen und den komatösen Zustand ihres Bruders Dylan zu akzeptieren. Sie hat die Realität nun vollständig an- und die Kontrolle ihres eigenen Lebens als Direktorin übernommen.
Astralebene und Pyramide
Bei den Bedeutungen für Astralebene und Pyramide begibt man sich zwar auf eher esoterisches Terrain, dennoch passen beide gut in das Narrativ, dass Jesse in Control ihre eigenen, inneren Dämonen bekämpft und ihr innerer Friede gestört und disharmonisch ist.
Die Astralebene
Die Astralebene wird in spirituellen Kreisen als eigene Wirklichkeit angesehen, die parallel zu unserer physischen Wirklichkeit existiert, beide stehen dabei in Wechselwirkung. So soll alles, was sich auf der physikalischen Ebene befindet auch eine Entsprechung auf der Astralebene haben, jedoch nicht umgekehrt – jeder Mensch hat also sowohl einen physikalischen als auch einen Astralkörper, Tote oder andere „nicht-menschliche Bewusstseinsformen“ hingegen, besitzen nur noch ihren Astralkörper, ihre Seele. Verlässt ein Mensch zeitweise seinen physikalischen Körper, nennt man dies Astralreise oder Seelenreise.
Die Wesen auf der Astralebene bestehen nur aus Energie und Schwingung und können durch Veränderung der Schwingung auf eine andere Ebene wechseln. In Control erfährt man, dass der Antagonist, das Zischen, vor allem eine Schwingung, eine Frequenz ist. Diese Schwingung wird im Spiel als Kakophonie von Stimmen dargestellt, sprich: Jesse ist nicht im Einklang mit sich selbst. Beim Yoga geht es viel darum, die eigenen Schwingungen zu stabilisieren und auch geläufige Bewusstseinstheorie geht davon aus, dass im Schlaf die Schwingungen des Gehirns synchronisiert werden und dadurch nicht nur Ruhe, sondern auch einen tieferen Bewusstseinszustand herstellen.
Führt man nun zusammen, dass Astralkörper nur aus Energie und Schwingung bestehen, die Astralebene zu guten Teilen Tote und nicht-menschliche Bewusstseinsformen beinhaltet und dass der Antagonist im Spiel nur eine Schwingung ist, dann kann man das so deuten, dass der Tod in Jesses Leben eingetreten ist und sie nun lernen muss damit umzugehen – und zwar mit Hilfe der vorhin genannten Bewältigungsstrategien.
Die Pyramide
Jesse macht im Laufe des Spiels mehrere Seelenreisen und trifft dabei auf die auf dem Kopf stehende Pyramide. Pyramiden werden gerne als Kraftsymbol sowie als reinigende Entität dargestellt und bezeichnet. Nur: In Control steht die Pyramide Kopf – ein weiteres Indiz dafür, dass bei Jesse einiges im Argen liegt und sie gerade genau das Gegenteil von Kraft und Reinigung erfährt. Das ganze Spiel über tritt die Pyramide nur auf der Astralebene in Erscheinung, erst zum Ende des Spiels ist die Pyramide fester Bestandteil des Oldest House – Jesse hat es somit geschafft ihre Ängste aus dem Unterbewusstsein hervorzuholen und kann sie nun aktiv angehen.
Transparenz-Hinweis: Control wurde uns von 505 Games per Epic Games Store Key sowie per PS4 Store Key zur Verfügung gestellt.