Mit »Pokémon Legends: Arceus« will sich die Serie um die knuffigen Taschenmonster neu erfinden. Im Test zeigt sich jedoch, dass auch der neuste Teil nur für alteingesessene Fans geeignet ist. Wer ein spannendes JRPG rund um Pikachu und Co erwartet, wird enttäuscht.
Ich muss mit einem Geständnis beginnen: »Pokémon Legends: Arceus« ist mein erstes Pokémon-Spiel. Als Pokémon Rot und Blau sowie die dazugehörige Anime-Serie im Jahr 1999 nach Europa kamen, waren meine beiden jüngeren Geschwister augenblicklich Feuer und Flamme. Mir als gerade pubertierendem Früh-Teenager blieb da kaum etwas anderes übrig, als müde lächelnd auf das neue Lieblingsuniversum der jüngeren Hälfte der Familie hinabzublicken und stets zu betonen, was für ein uncooler Kinderkram das alles sei. Und dabei ist es auch geblieben. Mehr als 20 Jahre lang ging die Pokémon-Franchise an mir vorüber, weil ich mich bei ihrer Schöpfung in einer Phase befand, in der man sich typischerweise von den Autoritäten der Kindheit emanzipiert: Eltern, Lehrer, Nintendo.
Jetzt erschien aber »Pokémon Legends: Arceus«. Pastellige Optik, offene Welten, Schulterperspektive. Vieles erinnert an Breath of the Wild und Dragon Quest XI, zwei meiner absoluten Lieblingstitel der letzten Jahre. Vielleicht ist mit der drastischen Überarbeitung der klassischen Pokémon-Formel nun auch für mich der Zeitpunkt – nein, der lang gesuchte Vorwand! – gekommen, um endlich einmal einen richtigen Blick zu wagen? Außerdem lauert Elden Ring am Horizont. Ein freundliches, buntes Pokémon ist doch genau das richtige Kontrastprogramm, bevor es Ende Februar in die nächste, deprimierende Dark-Fantasy-Welt geht, oder?!
Ein bisschen Grind muss ein
Ich erwähne das, um klarzumachen: Ich habe mich redlich bemüht. Ich war offen für mein erstes Pokémon. Als ich jedoch wenig später auf einem grünen Hügel stehe, umringt von willkürlich umherwandernden Wurm- und Tauben-Pokémon, kommen mir erste Zweifel. Was ich vor mir sehe, erinnert mich entgegen den Trailern weniger an Breath of the Wild, als vielmehr an ein fernöstliches Online-Rollenspielen der Pre-World-of-Warcraft-Zeit. Selbst der Grind ist der gleiche. Im Pokédex, einem Verzeichnis aller Pokémon, das ich im Verlauf des Spiels vervollständigen soll, finde ich eine Aufforderung, Wurmple zu fangen. Nicht eines oder zwei. Fünfundzwanzig!
“Was will irgendjemand mit fünfundzwanzig Wurmple?”, frage ich mich. Aber so lautet nun mal die Aufgabe. Also hocke ich mich ins hohe Gras, um ein paar der roten Würmer abzuernten, die überall herum kriechen. Währenddessen ist um mich herum viel Landschaft, aber nichts, was meine Aufmerksamkeit weckt. Westen, Osten, Norden, Süden: völlig egal. Es geht nur ums Pokémon fangen. Zickzackkurs und Bälle auf Monster werfen. Irgendwie ganz schön banal…
Nach kurzer Zeit habe ich dutzende Pokémon gefangen, allerdings ohne wirklich zu wissen, weshalb. Als Hauptmotivator scheint sich »Pokémon Legends: Arceus« vor allem auf die Attraktivität der kleinen Kreaturen zu verlassen. Zugegeben: Die sind auch durchaus reizvoll. Ich finde schnell ein paar Instantmonster, die mir gut gefallen, etwa die Steinschlange Onyx, den Otter Buizel oder Geodude, einen schwebenden Felsbrocken mit Bizeps wie Arnold Schwarzenegger zu seinen besten Zeiten.
Allerdings ist »Pokémon Legends: Arceus« keine Lebenssimulation. Anders, als die Prämisse um die Erforschung der Pokémon suggeriert, versucht das Spiel niemals, die Illusion aufzubauen, dass es sich bei den Kreaturen um lebende, atmende Wesen handeln könnte. Ich stoße nicht auf Nester mit Jungtieren. Ich erlebe nicht, wie ein einzelnes Raubtier bei der Jagd eine Herde Pflanzenfresser zerstäubt. Im Gegenteil: Die Pokémon sind geistlose Mobs, die die Erde überbevölkern, aber außer einem Random Walk zu keinerlei eigenständigen Handlungen fähig sind.
Kampf ohne Tiefe
Doch nicht alle Pokémon folgen mir einfach so. Viele der Monster muss ich erst mittels taktischem Rundenkampf davon überzeugen, sich mir anzuschließen. Sehr cool: Während sich die Pokémon auf dem Feld begegnen, bleibt meine Spielfigur beweglich und kann sich frei im Raum positionieren. Das ist nur ein kleines Detail, wirkt sich aber erheblich auf das Gefühl aus, ein echter Pokémon-Trainer zu sein.
Leider verstolpert »Pokémon Legends: Arceus« die grundsätzlich vorhandenen guten Ansätze des Kampfsystems. Beinahe steckt im Spiel ein echtes Taktik-Schwergewicht. Ich kann aus 242 verfügbaren Pokémon frei eine Party aus sechs Kreaturen zusammenstellen, muss ihre Elemente und damit einhergehende Stärken und Schwächen beachten und kann sogar aus jeweils einem kleinen Pool auswählen, welche konkreten Angriffe, Buffs und Debuffs jedes Pokémon mit in den Kampf bringt. Ganz kurz blitzt hier echte Tiefe und Komplexität auf, doch die wird leider sofort wieder dadurch zunichte gemacht, dass sich sich die Pokémon stets nur einzeln begegnen. Will ich ein Pokémon auswechseln, endet mein Zug und der Gegner ist erneut an der Reihe, was sich in den nur sehr kurzen Kämpfen eigentlich immer als nachteilig erweist.
Was wäre alles möglich gewesen, würden sich im Kampf Gruppen aus mehreren Kontrahenten begegnen. Es gibt Stuns, ich kann Gegner schwächen und verwirren, meine eigenen Pokémon heilen und noch vieles mehr. Doch weil der Kampf nur als Duell (oder eine Serie von Duellen) ausgetragen wird, verpuffen all die bereits im Spiel vorhandenen Synergieeffekte. Stattdessen hauen sich die Pokémon meistens lediglich abwechselnd auf die Mütze – bis einer umkippt. Sehr schade!
Mit seinem Kerngameplay aus Sammeln und Kämpfen geht »Pokémon Legends: Arceus« durchaus selbstbewusst um: Fange oder besiege ich genügend Pokémon, steige ich im Pokédex-Rang auf und darf zur Belohnung in einem anderen Gebiet andere Pokémon fangen. Streng genommen ist das der Gameplayloop jedes RPGs: Für besiegte Gegner gibt es Erfahrungspunkte, durch die man gegen stärkere Gegner für mehr Erfahrungspunkte antreten kann. Allerdings habe ich bislang selten ein Spiel gesehen, dass diese Mechanik so ungeschminkt offenlegt. Nicht einmal bessere Ausrüstung für meinen Charakter gibt es zu finden, allerdings kann ich Kostüme und Accessoires wie Mützen freischalten.
Sammelaufgabe: The Game
Auch bei seiner Erzählung leistet sich das Spiel leider einen Fauxpas. Diese dreht sich um wildgewordene Pokémon, wird allerdings durch das Rangsystem des Pokédex beschränkt. Klartext: Wenn ich nicht genügend Pokémon fange und bekämpfe, darf ich die Story nicht weiterspielen. Aber auch abseits der eigentlichen Stars des Spiels möchte »Pokémon Legends: Arceus« primär mit Sammelaufgaben unterhalten. Für ein kleines Mädchen soll ich 107 in der Welt versteckte Irrlichter finden, mit dem Schatzradar meines Reitbären kann ich Gedichtfragmente entdecken, ich kann geheimnisvolle unbekannte Pokémon aufspüren, die wie Schriftzeichen und nicht wie Tiere aussehen, es gibt ein Crafting-System, 94 Sidequests, die sich meist ebenfalls um das Sammeln und Finden von Pokémon oder Gegenständen drehen… uff. »Pokémon Legends: Arceus« ist Sammelaufgabe: The Game.
So hat mich das Spiel dann auch verloren. Ohne eine motivierende Spielmechanik ist das reine Sammeln von niedlichen Dingen für mich nicht faszinierend genug. Außerdem fehlt mir die notwendige Biographie, um nostalgisch verklärte Freudenschreie auszustoßen, sobald ich einem weiteren Pokémon begegne. Alteingesessene Pokémon-Fans sehen all das vermutlich völlig anders, wie auch viele Kritiken und das positive Spieler-Feedback belegen. Wer aber wie ich als erwachsener Erstspieler die Hoffnung hatte, durch die Neuinterpretation der Serie endlich einen Zugang zur Reihe zu finden, wird sich auch nach dem Spielen von »Pokémon Legends: Arceus« weiterhin verständnislos am Kopf kratzen.