Seit einigen Wochen entzückt uns ein Spiel namens »Her Story«. Eine junge Frau aus England erzählt uns hier die Geschichte eines Mords und der Spieler erfährt durch ein Konzept einzelner Videoschnipsel das gesamte Drama. Dabei bekommt man immer nur einzelne, kurze Ausschnitte zu sehen, die uns nach Eingabe eines Stichwortes präsentiert werden. Ganz ähnlich wie bei YouTube, wären die Videos der Website stark fragmentiert und nur auf die Geschichte einer einzelnen Frau konzentriert.
Das Faszinierende an diesem Experiment ist sicherlich nicht die Geschichte an sich oder gar das Gameplay, welches wirklich nur aus dem Suchen nach neuen Videos besteht, sondern die Tatsache, wie diese Geschichte präsentiert wird: Aus den einzelnen Bruchstücken dieser Erzählung gilt es, das Große und Ganze zusammenzuschustern. Das ist verwirrend und man landet in vielen Sackgassen, doch Letzteres liegt allein an der Deduktion des Spielers, an der Fähigkeit aus den kleinen Elementen ein Gesamtwerk zu machen. Dieser Vorgang ist uns vertraut, denn es ist wie einer Freundin beim Erzählen einer Geschichte zuzuhören, die uns nicht alles verraten will, sondern der wir peu à peu alles aus der Nase ziehen müssen.
Warum ist dies uns aber so vertraut? Was steckt hinter diesem Vorgang? Das Konzept der bruchstückhaften und subjektiven Erinnerung ist eine der Grundlagen von Disziplinen wie der »Narrativen Psychologie« oder dem Konzept der »Historischen Narration«. Wir erfahren aus Erzählungen nie alle Details. In jedem Gespräch ist in unserem Kopf automatisch ein Mechanismus am Werk, der uns versucht Lücken zu schließen und der Geschichte einen Sinn zu geben. Es ist beispielsweise eine der Hauptaufgaben von Geschichtslehrern, seinen Schülerinnen und Schülern das Werkzeug in die Hand zu geben, um diese Lücken in Narrationen selbst so gut wie möglich zu schließen und auf diese Weise eine eigene Erzählung der Geschichte konstruieren zu können. Spiele übernehmen diese Aufgabe meist von selbst und versuchen alle Lücken mit Sinn zu füllen, doch »Her Story« macht diese Erfahrung zum grundlegenden Spielkonzept.
Es ist also dieses Konzept, was die Faszination an »Her Story« erklären könnte. Wir versuchen permanent herauszufinden, was zwischen dem Gesagten passiert ist. Wir erschließen uns die gezeigte Lebenswelt von selbst und bauen auf diese Weise eine mehr oder weniger schlüssige Narration. Dabei wird immer wieder deutlich, wie unglaublich wandelbar unsere Vorstellung der Gesamtgeschichte ist, denn eine einzelne neue Information kann alles auf den Kopf stellen. Ich würde an dieser Stelle gerne ein Beispiel geben, jedoch würde es das gesamte Spielkonzept ad absurdum führen, wenn ich hier zentrale Aha-Momente spoiler. Ich hatte jedenfalls mehrere dieser Momente und feststehende Vermutungen wurden schnell wieder auf den Kopf gestellt, wenn mir ein neuer Schnipsel aus den Verhören vorgestellt wurde. Es ist eine große Leistung, was uns Sam Barlow hier präsentiert: Es gehört sehr viel Menschenkenntnis dazu, ein Gespräch so zu fragmentieren, dass die übergreifende Narration einen Sinn ergibt und den Spieler trotz der Verwirrung, die ein solches Konzept mit sich bringt, nicht zu verlieren. Die großartige schauspielerische Leistung von Viva Seifert tut ihren eigenen Teil, indem sie selbst minimalste Emotionen natürlich wiedergibt.