Zockwork Orange

Zwei Monate Chicago, oder: was vom Watch Dogs-Hype übrig blieb

E3 2012: Ubisoft kündigt unerwartet ein neues Spiel an, das keine Fortsetzung einer Reihe ist. Alle sind aus dem Häuschen. Durch Chicago rennen und alles, aber wirklich alles hacken können? Klingt fantastisch, bitte bitte mehr davon!

gamescom 2013: Ubisoft zeigt ein paar Minuten echtes Gameplay aus »Watch_Dogs«1: man kann durch Chicago laufen und Dinge und Personen hacken. Nichts neues irgendwie, der Hype ist spürbar abgeflaut.

Oktober 2013: “2 Monate Los Santos2 sind genug, besucht Chicago” wirbt Ubisoft, verschiebt dann aber »Watch_Dogs«, das November 2013 erscheinen sollte, bis auf weiteres.

Ende Mai 2014: »Watch_Dogs« erscheint endlich, nach ein paar Verzögerungen. Doch was ist vom Hype geblieben? Wir haben uns einen verlängerten Urlaub in Chicago gegönnt und »Watch_Dogs«3 ausführlich auf den Zahn gefühlt.

Die Story

Der Hacker Aiden Pearce dringt zusammen mit seinem Partner Damien Brenks in das Merlaut-Hotel in Chicago ein, mit dem hehren Ziel, die wohlhabenden Hotelgäste ihrer digitalen Vermögen zu erleichtern. Möglich wird das durch ctOS, einem stadtweiten Netzwerk, das alles miteinander verknüpft. Handys, Überwachungskameras, Webcams, ja sogar die über Brücken über den Chicago River… alles, was im Netz ist, kann gehackt werden. Aber der Angriff der beiden wird bemerkt, sie werden entdeckt und von einem ominösen Drahtzieher wird geplant, den beiden als Warnung einen Schrecken einzujagen. Damien kommt mit einem kaputten Bein davon, Aidens Nichte allerdings ums Leben, weshalb Aiden untertaucht und einen Rachefeldzug plant.

Während Aiden den beauftragten Attentäter ausfindig macht, geht es Damien darum, den Hacker zu finden, der sie damals erwischte. Als Aiden ablehnt, ihm dabei zu helfen, entführt Damien Aidens Schwester als Druckmittel. Aiden hat seine Familie, die er beschützen wollte, somit erneut in Gefahr gebracht und muss nun alles daran setzen, Damien zufrieden zu stellen und seine Schwester in Sicherheit zu bringen.

Dass es nicht nur um eine kleine Privatfehde gehen kann, ist klar. Wer ctOS kontrolliert, kontrolliert jeden, kontrolliert die Stadt. Und so muss Aiden nicht nur seine Familie beschützen, sondern auch als “Vigilante” Chicago schützen und dafür sorgen, dass Damien nicht die Kontrolle über ctOS erlangt.

Das Gameplay

Spielerisch kommt »Watch_Dogs« ein wenig wie ein GTA Chicago daher. Die meiste Zeit verbringt man im Auto auf den Straßen Chicagos und verläuft sich in hunderten, kleinen Nebenmissionen, die kein Ende nehmen. Zwar vermummt Aiden Pearce sich gerne, möchte aber andererseits auch Verbrechen bekämpfen, um “Reputation” zu sammeln und vom Volk geliebt zu werden. So machen zahllose Kleinkriminelle Bekanntschaft mit Aidens Teleskopschlagstock, damit der heimliche Hacker bekannter wird als der sprichwörtliche bunte Hund. “Hey, it’s the Vigilante from the news”, rufen sie ihm zu, während sie ihre Kamerahandys zücken. Ein Gutes hat das aber: wenn die Bewohner Chicagos ihn lieben, rufen sie seltener die Polizei, wenn er doch mal wieder über die Stränge schlägt – ein Auto klaut, irgendwen überfährt oder *gasp* Motorrad fährt. (Auch wenn überall in Chicago Motorräder herumstehen; niemand nutzt sie jemals. Tut Aiden das, springen alle laut schreiend zur Seite, als sei man Ghostrider höchstselbst). Nebenbei hackt Aiden die Bankkonten sämtlicher Passanten, die seinen Weg kreuzen und macht auch vor Krebspatienten mit $20.000 Jahresgehalt keinen Halt. Natürlich ohne jegliche direkte oder moralische Konsequenzen. (Am Ende läuft man mit 100.000en Dollar in der Tasche umher, Geld braucht man so gut wie nie und Aiden sagt sogar selbst, er sei keine “Cash-Person”.)

Wenn die Polizei doch mal kommt – und die ist verdammt schnell da – wird es ernst, denn das CPD kennt keine Gnade. Es wird sofort das Feuer eröffnet und versucht, Aiden von der Straße zu drängen oder zu rammen. Dass dabei ein Haufen Passanten drauf geht, ist nebensächlich. Auch Aiden hat keine Probleme damit, Menschen das Licht auszuknipsen. Im Falle eines Zivilisten gilt: eine gute Tat macht eine böse (Mord, Totschlag) wieder wett. Ausschalten kann man die Polizei nur schwer. Ausfahrbare Poller, Brücken oder Schranken können gehackt werden, um der Polizei die Verfolgung zu erschweren. Dennoch hängen sie wie Kletten an Aiden, sind gleich schnell wie er und wissen dank ctOS immer Bescheid, wo er sich aufhält. Wenn dann noch ein Polizeihubschrauber dazu kommt – selbst durch einen Wagenwechsel in einem Tunnel lässt der sich nicht abschütteln – folgt einem kleinen Autodiebstahl auch schon mal eine 10-minütige Verfolgungsjagd quer durch Chicago. Aber wenigstens sieht man so etwas von der Stadt. Normal lässt einen die Polizei allerdings in Ruhe, Geschwindigkeitsübertretungen, Rote Ampeln und Unfälle sind denen egal, anders als in vielen anderen Spielen kann man hier bedenkenlos auf’s Gas treten.

Die Hauptmissionen sind ganz unterschiedlich und recht abwechslungsreich. Aidens beste Freunde sind hier die Überwachungskameras, die selbst im von Gangstern besetztem Hochhaus an jeder Ecke zu finden sind. Mit diesen kann er feindliche Gebiete auskundschafte und aus der Ferne Gegner ausschalten, indem er z.B. die Umgebung gegen sie einsetzt, Elektrogeräte oder Gasleitungen explodieren lässt oder sie mit ihren Handys ablenkt. Am Ende ist »Watch_Dogs« aber kein wirkliches Stealthgame und so cool ich es gefunden hätte, ähnlich wie bei einem Deus Ex komplett friedfertig durch das Spiel gehen zu können – die Entwickler hatten anderes im Sinn. Das Hacken aus der Deckung heraus hilft nur bedingt und der offene Konflikt ist fast immer unvermeidbar. Schade, für mich passt ein Shotgun-schwingender, Granaten-werfender Typ nicht so ganz in das Bild des Vigilante-Hackers, der die Stadt und seine Familie retten möchte. Am Ende pflastern Leichen Aidens Weg.

Über sämtliche Nebenmissionen und Mini-Games könnte man mindestens zwei separate Artikel schreiben. Hier verliert man sich schnell in weniger wichtigen Missionen und ich hab irgendwann entschieden, nur noch Story-Missionen zu machen, um überhaupt mal fertig zu werden. (Die Mini-Games haben auch wenig mit dem Spiel zu tun und reißen einen aus der Immersion raus. Pixelmünzen jagen, schön und gut. Aber was hat das mit »Watch_Dogs« zu tun?)
Bei den Story-Missionen folgt immer eine auf die andere und man hat keine Wahlmöglichkeiten bezüglich der Reihenfolge der Missionen. Die Nebenmissionen hingegen tauchen zufällig auf oder werden durch bestimmte Aktionen getriggert. Diese reichen vom Verhindern kleiner Verbrechen über das Auffinden von Waffenlieferungen bis zum Zerschlagen eines Mädchenhändlerringes. Dazwischen gibt es noch Aufträge, die man annehmen kann, Gangverstecke, die man infiltrieren muss, Online-Hacking-Herausforderungen, Untergrundrennen, Verbrecher-Convoys, die es abzufangen gilt, QR-Codes, die man finden muss, ctOS-Türme, die man hacken muss, und, und, und…
Das bringt alles Erfahrungspunkte, die Aiden braucht, um seinen Skilltree aufzuleveln. Besser schießen, mehr Explosions-Resistenz, ausgereiftere Fahr-Skills; mit den Story-Missionen alleine wird es am Ende knapp, für genügend Skillpoints sind die Nebenmissionen folglich unabdingbar.

Das Fazit

Es gibt genug zu tun in Chicago, doch genau das ist das Problem mit »Watch_Dogs«. Eines der Probleme. Die dünne Story lädt dazu ein, abzuschweifen und sich in unwichtigen Missionen zu verlieren oder durch die Stadt zu cruisen – das Schicksal von Aidens Familie kann kaum Interesse oder gar Mitgefühl erwecken. Nicht unschuldig daran ist Aiden Pearce selbst und seine Doppelmoral. Ist er nun der Gute? Der Böse? Was will er überhaupt? Warum sollte man als Spieler auf seiner Seite sein? Aus der Geschichte einer Stadt, die von einem Konzern gesteuert und überwacht wird, hätte man viel machen können, inklusive moralischem Unterton mit Verweis auf den Überwachungsstaat, auf den wir selbst uns zubewegen. Am Ende ist »Watch_Dogs« ein simpler Rachefeldzug eines Mannes, der sich nicht eingestehen möchte, dass er selbst Schuld am Tod seiner Nichte hat und deshalb andere Leute umbringt. Es wird gegen Ende versucht, eine tiefere Botschaft zu vermitteln, das geht aber total in die Hose und wenn die Credits rollen, fragt man sich nach dem unbefriedigenden Ende unweigerlich: “Wie? Das war’s jetzt?”
Im und während des Abspanns kommt zwar noch was, unter anderem werden mögliche Fortsetzungen angeteasert, aber persönlich glaube ich nicht daran, dass Ubisoft »Watch_Dogs« ähnlich melken wird wie die Assassin’s Creed-Reihe. Potential ist genug da und dass ein schlechter erster Teil trotzdem eine gute Reihe hervorbringen kann, hat Assassin’s Creed gezeigt, ob Ubisoft aber bereit ist, das Risiko einzugehen, ist eine andere Frage.

Am Ende bleibt ein gutes Spiel, das mich immerhin fast zwei Monate fesseln konnte, das aber dem künstlich erzeugten Hype in keiner Weise gerecht werden konnte, spielerisch nicht ausgereift ist und technisch einige Jahre hinterher hinkt.

1der Einfachheit halber ab jetzt die Schreibweise “»Watch_Dogs«” an Stelle von “»WATCH_DOGS«”. Niemand mag Caps Lock.
2besagtes Los Santos sieht im Vergleich auf derselben Konsole tausend Mal besser aus. Da gibt es sogar echtes Wasser, wohingegen Chicago nur mit einer dunklen, undurchsichtigen Brühe aufwarten kann, die sich einen Dreck um physikalische Eigenschaften echten Wassers schert.
3im ganzen Spiel kommen keine Hunde vor :(

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