Meine ersten eigenen Gehversuche im Internet kamen relativ spät, so um 1999-2000 herum. Zur Verfügung stand mir dafür ein bereits damals hoffnungslos veraltetes 19.200 Baud-Modem. 56 kbit/s waren da schon state-of-the-art, die ganz coolen hatten eine ISDN-Flatrate(!) und blockierten für doppelten Speed beide B-Kanäle. Den größten Zauber wirkte dabei das charakteristische Einwahlgeräusch auf mich aus, welches verheißungsvoll die Verbindung aus meinem kleinstädtischen Zimmer heraus zu allem, was woanders war, ankündigte. Kurz darauf erschienen Dinge auf meinem Bildschirm, die nicht lokal auf meinem PC lagen – eine völlig absurde Vorstellung, die mich vor Ehrfurcht zittern ließ. Nichtsdestotrotz war dies schon das World Wide Web, wie wir es heute noch kennen: via HTTP übertragene HTML-Seiten mit Text, Bildern und Links gleichermaßen.
Dies war nicht immer so: In den 80er Jahren boten rein textbasierte Mailboxen oder Bulletin Board Services (BBS) Online-Dienste wie private Mails, öffentliche Foren und Downloadbereiche an. Damit ergaben sich bereits ähnliche Probleme wie heute: es wurde getrollt, es wurden Raubkopien gesaugt und vielleicht verliebte man sich auch mal mehr oder weniger unglücklich in eine gesichtslose Person am Ende einer anderen Leitung. Und natürlich waren Mailboxen Grundlage derselben Faszination, die mir mein olles Neunzehnzweier-Modem herbei transportierte. Um genau dieses Lebensgefühl geht es in dem Adventure DIGITAL: A LOVE STORY.
Digital versetzt einen zurück in das Jahr 1988 (Fun Fact: Die Autorin des Spiels ist 1989 geboren), vor ein Betriebssystem mit dem Namen Amie Workbench – Kenner der romanischen Sprachen durchschauen diese Anspielung sofort. Eine kurze Nachricht auf dem Desktop leitet das Spiel ein: Glückwunsch zum neuen Computer, hier eine Mailbox-Einwahlnummer und bitte keinen Mist damit bauen. Das ist alles. Man klickt herum und alles fühlt sich erstaunlich real, wenn auch archaisch an. So wie es wohl sein soll. Schließlich landet man mit der händisch eingetippten Nummer auf seiner ersten Mailbox (nach dem tollen Einwahlgeräusch!) und die Faszination nimmt ihren Lauf: Man flirtet mit der nicht greifbaren Emilia, lässt sich die wichtigsten Dinge vom BBS-Sysop erklären und lädt seine ersten Warez. So lebendig das jetzt auch klingen mag, so ist es im Spiel doch nur ein Anklicken, lesen und “Reply” drücken von E-Mails. Auf die eigenen Nachrichten hat man übrigens keinen Einfluss, man sieht sie nicht einmal. Lediglich anhand der Antworten des Gegenübers kann man ungefähr ahnen, was man selbst geschrieben hat.
Schließlich erhält man die Nummer zu der nächsten Mailbox und dort geht dasselbe Spiel weiter: E-Mails anklicken bis nichts mehr nachkommt, dann mal wieder bei der ersten Mailbox schauen, was sich denn in der Zwischenzeit so getan hat. Wer jetzt eine Art Hyperlink erwartet, überschätzt das Jahr 1988. Die Verbindung zu einer Mailbox funktioniert wie ein Telefonat. Man muss also erstmal die Verbindung trennen, dann die andere Nummer wieder eintippen (Verbindungsmanager? Vergiss es!), wieder so lange Mails anklicken, bis nichts mehr kommt, Verbindung trennen… sehr redundant und ermüdend. Immerhin gibt es später ein Adressbuch, in das automatisch sämtliche wichtigen Daten eingetragen werden, so dass man nicht mitschreiben oder immer seine Mails durchwühlen muss. Und manchmal hat man es sogar mit richtigen Puzzles zu tun: Passwörter knacken, verschlüsselte Mails aufdröseln und manches mehr.
Der Witz des Spiels besteht im Prinzip darin, dass man ohne große Vorgaben raustüfteln muss, was man überhaupt als nächstes machen soll – darum soll hier auch nicht zuviel verraten werden. Es verliert sich leider großteils in langweiligem Mailgeklicke und dem sehr ätzenden Mailbox-Hopping, lädt aber stellenweise dafür um so mehr zum Querdenken ein. An einer Stelle muss man beispielsweise nach einem Update des Betriebssystems seinen Rechner rebooten – was hier wirklich bedeutet, das Spiel zu beenden und den letzten Spielstand zu laden. Digital hat ein sehr schönes, eigenes und realistisches Flair, das Old School-Nerds sofort in den Bann zieht. Einen netten Ambient-Soundtrack gibt es obendrein – kein Meisterwerk, aber hübsche Untermalung.
DIGITAL: A LOVE STORY ist als kostenloser Download für Windows, Linux und Mac erhältlich. Wer noch analog durch die Datennetze gesurft ist, sollte auf jeden Fall mal einen Blick riskieren – gleiches gilt für Freunde von ungewöhnlichen Spielideen und Adventures allgemein.
(via GEE, Printausgabe Mai 2010)
Dank der wirklich gelungenen Musik, sind die genannten Schwachstellen des Spiels durchaus zu verkraften. Man kann sich einfach treiben lassen und and die tollen Mailbox-Zeiten erinnern. Mir gefällts!
Wer allerdings nie Kontakt mit Mailboxen und dem Fido-Net hatte, wird sich wahrscheinlich so garnicht wohlfühlen.