Red Dead Redemption 2: 29¢ und das Ende einer Ära 0

Über die Immersion in Videospielen

Ich habe einen Mann erschossen. Für 29¢. Fassungslos durchsuche ich das Lager des Getöteten, doch da ist tatsächlich nichts weiter. 29¢. Eine armselige Beute. In diesem Augenblick mag ich Arthur Morgan nicht mehr und ich mag mich selbst nicht mehr. Ich fühle mich schuldig: Ich habe für Arthur in »Red Dead Redemption 2« die Verantwortung übernommen und dieses Vertrauen bitter enttäuscht, als ich mit nur einer Kugel das Schicksal von zwei Menschen für immer verändert habe.

Dabei gingen zum Zeitpunkt des Raubüberfalls bereits Dutzende, vielleicht hunderte Tote auf Arthurs Konto. Eigentlich war er längst schuldig. Warum habe ich dennoch ausgerechnet bei diesem einen Zufallsopfer das Gefühl, etwas wirklich schlimmes getan zu haben? Um diese Frage zu klären, habe ich mich auf die Suche nach Immersion in Videospielen gemacht und werde am Beispiel von »Red Dead Redemption 2« erläutern, wo diese zu finden ist und an welcher Stelle Rockstar damit scheitert.

Vom ,Anderssein‘ des virtuellen Lebens

Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga definiert 1939 in seinem Buch Homo ludens (dt. der spielende Mensch) ein Spiel so:

Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘.

Wenn der Mensch spielt, geht es darum, etwas zu erleben, was anders ist, als der Alltag. Diese Sehnsucht erfüllt das Medium Videospiel in zahlreichen Ausführungen: Ob als Raumschiffkapitän in Everspace oder Star Citizen, als militanter Hacker in Watch Dogs oder als Cowboy in »Red Dead Redemption 2«: Der Markt hält für beinahe jede Power Fantasy ein passendes Produkt bereit. Das Ausfüllen dieser Fantasie gelingt einem Videospiel besonders gut, wenn das virtuelle Leben möglichst überzeugend inszeniert wird. Identifiziert sich ein Spieler stark mit dem Bildschirmgeschehen und seinem Avatar, spricht man von Immersion – der Spieler wird kognitiv regelrecht in das Spiel gesogen. Doch wie inszeniert man dieses virtuelle Leben, damit der Spieler für den Augenblick vergisst, dass er eigentlich vor dem Fernseher sitzt?

Auch wenn man lediglich zuschauen kann, sind die Zwischensequenzen dank hervorragender Inszenierung unterhaltsam.

Das Videospiel als Milieustudie

Um nachvollziehen zu können, warum der erwähnte Mord viel immersiver war, als die zahlreichen anderen Verbrechen, die ich bis zu diesem Zeitpunkt begangen habe, muss man verstehen, was Rockstars Wild-West-Epos für ein Spiel ist. Keineswegs ist »Red Dead Redemption 2« der Actiontitel, den man von den GTA-Machern erwarten würde, stattdessen erinnert das Spiel oftmals an eine gemächliche Milieustudie, die das (popkulturell stereotypische) Leben von Gesetzlosen im Wilden Westen portraitiert.

Denn auch wenn »Red Dead Redemption 2« Klischees von Outlaws mit rauchenden Colts bedient, macht dieser Aspekt in Wahrheit nur einen kleinen Teil des Spiels aus. Demgegenüber stehen viele ruhige Momente: Ausritte in der Morgensonne. Abende am Lagerfeuer. Das langsame Anpirschen bei der Jagd. Auch die Distanzen im Spiel tragen zu dieser bedächtigen Atmosphäre bei: Die Prärie ist beinahe endlos und leer, nur an wenigen Stellen unterbrochen von Zeichen der Zivilisation. Während Grand Theft Auto alle paar Sekunden die Möglichkeit zur Interaktion mit der Spielwelt bietet, benötigt man in »Red Dead Redemption 2« selbst für den regelmäßigen Weg in die nächste Stadt mehrere Minuten, in denen nichts passiert. Ähnlich glaubwürdig sind auch die Größenverhältnisse von Städten und Gebäuden. Alles wirkt “richtig”, eine Feinheit, die bereits in Grand Theft Auto V ein erheblicher Gewinn für Integrität der Spielwelt war.

Die Morgensonne bricht durch die Bäume, ein einsamer Reiter trottet durch den weitläufigen Westen.

Dieser Sinn für Details setzt sich in der Interaktion fort. Hier scheut sich Rockstar auch nicht davor, ihr Werk manches mal überkompliziert wirken zu lassen. So führt Arthur Morgan zum Beispiel nicht alle Waffen automatisch mit, sondern muss sie ggf. nach dem Absteigen extra vom Pferd nehmen. Nicht nur einmal musste ich mitten im Wald feststellen, dass ich mein Gewehr am Sattel vergessen hatte. Ist das lästig? Ja! Gleichzeitig wird dem Erlebnis aber auch eine Ebene hinzugefügt. Dieser Wille zur Authentizität zieht sich durch weite Teile des Spiels. Obwohl viele dieser Einzelheiten nicht notwendig wären, um ein gutes Videospiel zu erschaffen, erkennt »Red Dead Redemption 2« ihren Wert, unterstreicht so das ‚Anderssein‘ dieses virtuellen Lebens und hebt sich von der “nur” guten Konkurrenz ab.

Zusammenbruch des anderen Lebens

Leider gelingt es Rockstar nicht, dieses Niveau dauerhaft zu halten: Das ‚andere Leben‘, das »Red Dead Redemption 2« in seinen besten Augenblicken inszeniert, lässt sich leicht abgrenzen von den Teilen des Spiels, in dem man lediglich einer virtuellen Aufführung beiwohnt. Sobald dem Spieler die Fesseln der Erzählung angelegt werden – in der Regel durch eine Mission – ist er nicht mehr Teil der Welt, sondern wird zum Darsteller degradiert, der, durch die unsichtbare Hand des Regisseurs geführt, eine Rolle zu spielen hat. Wer nun gegen die Regieanweisungen verstößt, wird augenblicklich mit einem “Game Over” konfrontiert.

Dabei sind Missionen und Schauspiel grundsätzlich toll inszeniert, Dialoge und Charaktere unterhaltsam geschrieben – »Red Dead Redemption 2« gehört zum Besten, was das Videospiel im Jahr 2018 in dieser Hinsicht zu bieten hat. Dennoch katapultiert es den Spieler während der Missionen zurück in den Zuschauersessel. Während ich mich selbst für den Überfall entschieden habe, übergebe ich während der Aufträge wie beim berühmten Milgram-Experiment die Verantwortung für die zahllosen Toten an das Spiel ab: Ich habe schließlich nur Befehle befolgt. Es entsteht eine Dissonanz: Ich fühle mich schuldig gegenüber dem einzelnen Zufallsopfer, dessen Leben ich für eine Beute von 29¢ beendet habe, empfinde jedoch für das Leid zahlreicher anderer Menschen, welche die Begegnung mit mir nicht überlebten, lediglich Desinteresse.

In den Videos, wie hier beim Ausspähen des Städchens Blackwater, wird noch Wert auf Glaubwürdigkeit gelegt. Kurze Zeit später jedoch werden die Colts rauchen und die Atmosphäre zerstört.

Hinzu kommt, dass ausgerechnet die Schusswechsel während der Missionen der ärgste Feind der Immersion sind: Hemmungslos dekonstruiert Rockstar die sorgsam aufgebaute Welt, indem sie Arthur und seine Gefährten gegen absurde Mengen an Gegnern antreten lassen. Selten genügt es den Entwicklern, ein kurzes Gefecht gegen eine handvoll Gegner zu inszenieren. Arthur ballert, mit Zeitlupenfähigkeit ausgestattet, regelmäßig dutzende Gegner über den Haufen. Was ich hier erschieße, sind keine ebenbürtigen Menschen, sondern Tontauben; Kanonenfutter für den angenommenen Blutdurst des Spielers. Wenn die Revolver sprechen, fällt der Glaube an die Spielwelt und an das ‚andere Leben‘ in sich zusammen.

Am Ende des Wilden Westens

Ein weiteres, eindrückliches Beispiel, in welchen Momenten von »Red Dead Redemption 2« Immersion entsteht und wann nicht, liefern die Stadt Saint Denise und die Hintergrundgeschichte. Im Verlauf des Abenteuers hadern Arthur Morgan und seine Kollegen immer wieder mit ihrem Schicksal als Gesetzlose. Wenn sie sich Geschichten von früher erzählen, wenn sie sich abseits des Lagers treffen und sich leise über ihre Situation unterhalten, spüren sie, dass ihre Zeit abläuft. Das Amerika an der Schwelle des 20. Jhd. akzeptiert Outlaws und ihre Eskapaden nicht mehr. Doch obwohl Rockstars Charaktere ihre Melancholie ein ums andere Mal offen ansprechen, fühle ich vor dem Bildschirm nicht mit ihnen mit. Das ändert sich erst, als ich eines Tages zufällig Saint Denise betrete.

Saint Denise ist eine andere Welt. Schon aus der Ferne entdeckt man Fabriken mit schwarz qualmenden Schloten. Nicht Kutschen, sondern Straßenbahnen bewältigen den städtischen Verkehr, am Abend wird die Stadt vom elektrischen Licht der Straßenlaternen hell erleuchtet. In seiner staubigen Cowboykleidung ist Arthur Morgan ein Fremdkörper. Als ich ihn zum Friseur schicke, damit er nicht ganz so fehlplatziert wirkt, kommt nach Tagen in der Wildnis unter dem Zottelbart und den langen Haaren ein Mann zum Vorschein, der noch immer nicht hierher gehört. In Saint Denise spüre ich die Andersartigkeit des virtuellen Lebens und Arthurs Entfremdung von der Welt mehr als in jedem Dialog zuvor. In Saint Denise endet der Wilde Westen, geographisch wie zeitlich.

Ein Lagerfeuer unterm Sternenhimmel. Auch wenn Red Dead Redemption 2 nicht explizit auf Bettzeiten besteht, legt einem die Authentizität der Welt nahe, ein wenig Rollenspiel zu betreiben und Arthur eine Ruhepause zu gönnen.

Möglichkeitsräume für Immersion und der fehlende letzte Schritt

In Augenblicken der Immersion verschwimmen Spieler und Spielfigur – es ist nicht mehr völlig klar, wer die Waffe zieht, wer Trauer über die vergangene Ära verspürt. In »Red Dead Redemption 2« kommt dann Immersion auf, wenn ich selbst handle: Ich habe die Entscheidung getroffen, mein Zufallsopfer auszurauben und zu ermorden, genauso, wie ich Saint Denise entdeckt habe. Keine Kamerafahrt über die Dächer der Stadt, kein innerer Monolog über Arthurs Schuldgefühle, keine Zurschaustellung von Trauer und Wut hätten mir abnehmen können, was meine eigenen Gedanken und Gefühle mir in diesen Momenten begreiflich machten.

Doch ohne die detailliert ausgearbeitete Welt, deren Begehung oftmals mühseliger ist als notwendig, hätte ich mich nicht so involviert fühlen können. Für den Aufbau dieser Bühne und die Schaffung von Möglichkeitsräumen für Immersion verdienen die Entwickler höchstes Lob: »Red Dead Redemption 2« besitzt eine der beeindruckendsten Spielwelten aller Zeiten. In dieser Kombination aus Selbstwirksamkeit des Spielers und Glaubwürdigkeit der Spielwelt entsteht die Möglichkeit zum Eintauchen in den Wilden Westen.

Hier liegt jedoch auch der zentrale Unterschied zwischen den vielen Opfern auf der einen und dem einzelnen Opfer auf der anderen Seite: In den Missionen handle nicht ich, sondern Arthur. Solange ich nicht selbst verantwortlich bin für meine Taten, solange ich nur den Regieanweisungen des Spiels folge, kann keine Immersion entstehen. Unglücklicherweise fallen diese Augenblicke, in denen Spieler und Spielfigur sowieso schon entkoppelt werden, häufig mit den Momenten zusammen, in denen auch die Spielwelt viel ihrer Glaubwürdigkeit einbüßt. Suspension of Disbelief, die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit, nennt man den insgeheimen Pakt zwischen Spiel und Spieler, der notwendig ist, um über die Unzulänglichkeiten virtueller Welten hinweg zu sehen. Doch während der Schießereien kann ich meinen Teil der Abmachung nicht mehr einhalten: Ich glaube dem Spiel nicht, dass Arthur erfolgreich gegen zwanzig bis dreißig Revolvermänner antritt.

Schade, dass Rockstar offenbar auf diesen letzten Metern den Mut verloren hat. Sie gehen einen so weiten Weg, um eine glaubwürdige Welt aufzubauen und eine ungewöhnliche, entschleunigte Spielerfahrung anzubieten. Doch das Festhalten an orchestrierten Massenschlachten, die sich bereits seit GTA 3 aus dem Jahr 2001 in der Rockstar-Formel verbergen, reißt die mühevoll aufgebaute Authentizität, die Handlungsfreiheit des Spielers und damit jede Immersion wieder ein. Zwar ist das Herumballern nicht unspaßig, aber so atonal, dass man fast froh ist, wenn man danach einfach nur wieder in Ruhe dem Sonnenuntergang entgegen reiten kann.

Offenlegung: Red Dead Redemption 2 wurde uns vom Publisher zur Verfügung gestellt.

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Sebastian spielt auf der Playstation 4 samt PSVR und der Nintendo Switch aktuelle Blockbuster und Indies.

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