Als ich »God of War« letztes Jahr zum Release gespielt habe, hat es mir nicht gefallen. Genau benennen konnte ich meine Probleme mit dem Spiel damals nicht, ich empfand es lediglich als extrem mühselig und unbefriedigend. Dieses Frühjahr, knapp ein Jahr nach dem ursprünglichen Release, habe ich Sonys Exklusivtitel eine weitere Chance geben: Vielleicht hatte ich mich damals nur geirrt? Doch der Eindruck bestätigte sich: »God of War« wollte mir keinen Spaß machen und noch immer wusste ich nicht, warum. Erst, als ich unmittelbar nach meinem zweiten Anlauf »Anthem« spielte, wurde mir der Grund schlagartig klar: Während man in »Anthem« sehr mächtig ist, ist man in »God of War« machtlos. In diesem Artikel beschäftige ich mich daher mit den Machtphantasien beider Spiele und kläre, was »Anthem« gut macht und woran »God of War« scheitert.
Zielgruppe: Jung und männlich
Sowohl »Anthem« als auch »God of War« nutzen zwei zentrale Methoden, um den Spielern das Gefühl von Macht zu verleihen: Im aktive Teil des Gameplays, dem Kampf, erhebt man sich mit Waffengewalt über seine Gegner. Allerdings beginnt die Ermächtigung des Spielers schon vorher, durch Optik und Verhalten der Avatare.
»God of War« tut das mit einer Spielfigur, die ein geradezu ikonisches Männlichkeitsbild verkörpert: Der muskelbepackte, halbnackte Kratos, ist der Archetyp eines unerbittlichen Kriegers. Er ist kein Mann vieler Worte, er knurrt, grunzt und schreit häufig, statt sich zu artikulieren und greift eher früher als später zur Axt, wenn Probleme auftauchen. Doch Kratos sieht nicht nur stark aus: Bereits in einer frühen Szene im Spiel zeigt sich seine groteske Muskelkraft, mit der er wortwörtlich Berge versetzt, um einen Gegner darunter zu begraben. Diese übersteigerte Zurschaustellung von Männlichkeit passt in ein Medium, von dem (fälschlicherweise) immer noch angenommen wird, dass es vor allem von jungen Männern konsumiert wird.
Auch ein Blick auf die Vorgänger verdeutlicht die Zuschneidung von Kratos auf eine junge und männliche Zielgruppe: Ältere Spiele der Serie enthielten regelmäßige Sexszenen, in denen sich Kratos (und durch ihn der Spieler) durch rhythmisches Drücken des Gamepads mit mehreren Frauen vergnügen konnte. Zwar verzichtet der neueste Serienteil auf eine entsprechende Szene, im kollektiven Gedächtnis der Fans ist diese Seite von Kratos dennoch abgespeichert.
Kratos stellt daher nicht nur einen gewalttätigen Krieger dar, er ist zudem potenter (und erwünschter!) Liebhaber. Dadurch ist er der ideale Erfüllungsgehilfe für die Machtphantasien junger Männer, die mit unerreichbaren Männlichkeitsbildern aus Filmen, Musikvideos und Pornos konkurriert – und an den etablierten Standards nur scheitern können. (Natürlich scheitert die Zielgruppe auch daran, Kratos nachzueifern, allerdings hat sie anders als bei passiven Medien die Kontrolle über die überlebensgroße Hauptfigur.)
Die individuelle Definition von Coolness
Auch »Anthem« vermittelt dem Spieler durch die Optik seiner Avatare ein Gefühl von Stärke und Macht. Dreh- und Angelpunkt ist in diesem Falle jedoch nicht ein menschlicher Charakter, sondern die Javelins, vier stark gepanzerte Kampfanzüge, die ähnlich wie Marvels Iron Man fliegen können. Als Spielerwird man vor die Wahl gestellt, welchen der vier Javelins man in den Einsatz führt und welche Rolle man im Team übernimmt.
Aus Sicht des Spielers ist die Entscheidung für einen Javelin jedoch nicht nur für das Teamplay relevant: Je nach persönlicher Vorliebe erhält man die Kontrolle über einen anderen Krieger-Archetypen, die von flink bis bullig unterschiedliche Machtphantasien abdecken. Allen vier gemein ist, dass sie ein gepanzertes Exoskelett darstellen, das humanoid wirkt, ähnlich wie Kratos allerdings einem gewöhnlichen Menschen in Größe und Stärke weit überlegen ist.
Durch die Individualisierungsmöglichkeiten in der Schmiede geht »Anthem« allerdings noch einen Schritt weiter: Nicht nur Bewaffnung und Ausrüstung der Javelins können angepasst, sondern auch Farbe, Material und Form der Körperpanzer verändert werden. Dadurch spricht das Spiel noch eine weitere Phantasie an: Die des ölverschmierten Mechanikers, der in der Lage ist, Maschinen und Fahrzeuge eigenständig instand zu setzen – selbst, wenn man in der echten Welt möglicherweise nicht mal eine Zündkerze wechseln kann. Gleichzeitig gestattet das Spiel dadurch jedem Spieler, seine individuelle Definition von Coolness ins Spiel zu übertragen. Diese Gestaltungsmöglichkeit wird gerne angenommen: Javelins in Standardfarben bekommt man in »Anthem« praktisch nicht zu Gesicht.
Obwohl auf unterschiedlichen Wegen, gelingt es daher sowohl »Anthem« als auch »God of War«, dem Spieler einen Avatar zu geben, der Macht ausstrahlt. Die Heldenfiguren repräsentieren Selbstwirksamkeit und unterscheiden sich so vom Spieler, der sich im Alltag möglicherweise eher machtlos und wenig besonders fühlen. Über den Proxy eines NPCs spricht »Anthem« diesen Punkt sogar direkt an: Mit seinem individuellen Javelin in den Kampf zu ziehen, sei ein Statement, lässt einen ein Ladenverkäufer wissen.
Bestimmende Akteure des Schlachtfeldes
Zur Erfüllung der jeweiligen Machtphantasie reicht es jedoch nicht aus, lediglich stark auszusehen. Das Versprechen der Selbstwirksamkeit muss anschließend im Spiel auch eingelöst werden – dies ist die zweite zentrale Methode der Selbstermächtigung. »Anthem« löst sein Versprechen durch zwei wesentliche Eigenschaften ein: Bioware hat zum einen spürbar Wert darauf gelegt, die Steuerung der Javelins leicht und intuitiv zu gestalten und stattet zum anderen seine Spieler mit sehr mächtigen Waffen aus.
So ist es trotz hoher Fluggeschwindigkeiten zum Beispiel ein Kinderspiel, elegant und zielsicher auf schmalen Felsvorsprüngen zu landen. Die Bewaffnung der Javelins ist außerdem leicht einzusetzen: Geworfene Granaten finden dank optischer Zielhilfen und Softwareunterstützung schnell ihr Ziel, auch die Handhabung der Schusswaffen ist aufgrund des geringen Rückstoßes und sorgsam austarierter Drehgeschwindigkeit während des Anlegens angenehm anfängerfreundlich.
Doch »Anthems« Waffen lassen sich nicht nur leicht einsetzen, sie sind auch extrem stark: Eine einzelne Granate des Rangers tötet problemlos eine ganze Gruppe kleinerer Kontrahenten und seine hitzesuchenden Raketen treffen Gegner selbst dann, wenn man nur grob in ihre Richtung zielt. Um seine Spieler zu ermächtigen, bricht das Spiel sogar mit gewohnten Konventionen: Schrotflinten, mindestens seit Doom traditionell eine Waffe für kurze Distanzen, besitzen in »Anthem« eine extrem hohe Reichweite. Auch der Flammenwerfer wurde umgestaltet: Während die Waffe in Videospielen üblicherweise an chronischer Munitionsknappheit leidet, hat »Anthems« Variante unendlich Brennmaterial an Bord und wird dadurch ungewöhnlich stark.
Noch stärker werden die Waffen durch ihren geringen Cooldown: Trotz ihrer Wirksamkeit muss man nie mehr als einige Sekunden abwarten, bis man eine weitere Granate, Lenkrakete oder einen Mörser abfeuern kann – zumal auch in all diesen Fällen der Munitionsvorrat endlos ist. Es ist diese Kombination aus leichter Einsetzbarkeit, starkem Effekt und geringem Cooldown, durch die das Spiel Spaß macht: »Anthem« gelingt es, dass sich seine Spieler kompetent fühlen, wehrhaft sind und zu jedem Zeitpunkt die bestimmenden Akteure auf dem Schlachtfeld darstellen.
Kratos’ Scheitern
Es ist dieser Punkt, an dem Kratos scheitert, denn ausgerechnet »God of Wars« Gegner- und Encounterdesign bremst den Spielfluss aus und steht der Machtphantasie des Spielers im Wege. Ursächlich dafür ist, dass es dem Spieler sehr schwer gemacht wird, seine Gegner zu anzugreifen und zu besiegen. Dabei lassen sich drei wesentliche Designaspekte als Problemquellen identifizieren: Mobilität und Reichweite der Gegner, die Kämpfe gegen große Gegnergruppen und die Menge der gegnerischen Lebenspunkte.
Viele der Gegner sind in der Lage, den Spieler auf Abstand zu halten und dennoch eigene Angriffe anzubringen, etwa durch Beschuss aus der Ferne oder blitzschnelle Nadelstiche, nach denen sie sich augenblicklich wieder entfernen. Da die Angriffe in den gruppenbasierten Kämpfen aus vielen Richtungen kommen und die Gegner höchst mobil sind, wird es einem zusätzlich schwer gemacht, sich auf ein einzelnes Ziel zu konzentrieren.
Gelingt es dem Spieler dennoch, in Nahkampfreichweite zu gelangen, wird er häufig dazu gezwungen, seine Angriffe zu unterbrechen, etwa durch schwere Angriffe des aktuellen Hauptziels, vor allem aber Attacken durch Gegner, die von hinten oder der Seite in den Kampf eingreifen. Diese Chance nutzen Gegner häufig, um sich erneut von Kratos zu entfernen. Gerade dieser Aspekt ist frustrierend: In dem Augenblick, in dem der Spieler eigentlich in einer Position der Macht sein sollte, wird diese ihm wieder strittig gemacht. Darunter leidet auch das Combosystem: Die mehrstufigen Angriffsfolgen lassen sich nur sehr selten vollständig ausführen, weil man währenddessen ausweichen muss, von hinten Schaden erleidet, oder weil die agilen Gegner mittlerweile an einem völlig anderen Ort sind und Kratos ins Leere schlägt.
Darüber hinaus besitzen die Gegner ein ungewöhnlich hohe Menge an Lebenspunkte, was das Besiegen der Feinde zusätzlich mühselig macht. Nicht nur erfordert es enorme Anstrengungen, einen einzelnen Angriff erfolgreich anzubringen, die Gegner stecken auch deutlich zu viele von ihnen ein. Alle genannten Aspekte führen dazu, dass Kämpfe deutlich länger dauern, als sie sollten. Der Mangel an Variation bei den gegnerischen Angriffsmustern lässt die Kämpfe zusätzlich redundant und langatmig wirken.
Die Folge ist, dass »God of War« seine Spieler nicht durch den Kampf ermächtigt, sondern ihm im Gegenteil seine Machtlosigkeit vor Augen führt. Als Spieler ist man nicht mehr Akteur, sondern kann oft nur auf Angriffe der Gegner reagieren, ohne selbst handeln zu können. So tut sich eine Kluft auf, zwischen der Machtphantasie, die Kratos’ Auftreten verspricht, und der Spielwirklichkeit, in der man sich inkompetent fühlt angesichts von Gegnern, die zu bezwingen äußerst mühsam ist.
Abschließende Gedanken: Von Frust und Macht
Das Gefühl von Macht ist essentiell für ein Videospiel. Um dem Spieler die Flucht aus seinem langweiligen Alltag zu ermöglichen, stellen Computerspiele Charaktere zur Verfügung, die in ungewöhnlichen, oftmals lebensbedrohlichen Situationen stecken und über sich selbst hinaus wachsen. Ob man nun Wikingerkrieger ist, ein Sci-Fi-Exoskelett steuert oder einen Detektiv in einem gewaltfreien Point’n’Click-Adventure verkörpert: Stets übernimmt man als Spieler die Rolle von Charakteren mit außergewöhnlichen Fähigkeiten.
Dennoch wäre es ein Fehlschluss, anzunehmen, dass die Avatare unangreifbar mächtig sein müssen. Ein gutes Spiel muss nicht auf Frust verzichten: Nach zahlreichen Fehlschlägen einen Lerneffekt zu bemerken und eine Hürde endlich zu überwältigen, kann ebenso zu Euphorie und Ermächtigung führen. Meine Faszination für Dark Souls ist bis heute ungebrochen und gerade jetzt quäle ich mich durch From Softwares neuesten Titel, Sekiro. Doch »God of War« gelingt dieser Effekt nie: Während in Dark Souls das Scheitern immer auf meine eigene Unfähigkeit und Ungeduld zurückzuführen ist, sind es bei »God of War« Encounter- und Spieldesign selbst, die mich frustrieren.
Denn obwohl ich eine Figur wie Kratos steuere, fühle ich mich in »God of War« selten ermächtigt. Stattdessen haben mich die Kämpfe gleichermaßen durch ihr Design frustriert, wie sie mich durch ihre Längen ermüdet haben. Doch um zu verstehen, wo genau meine Probleme mit dem Spiel liegen, brauchte ich erst einen Titel, der die genau gegenteilige Designphilosophie verfolgt: Alles in »Anthem« ist darauf ausgelegt, dass sich der Spieler stark fühlt, vom Konzept der Javelins, über das Waffendesign, bis zur Menge und Stärke der Gegner. So berechtigt der Ärger über die zahlreiche anderen Mängel auch sind, das zentrale Versprechen löst das Spiel ein: Ich habe mich stets mächtig gefühlt – und hatte dadurch Spaß am Spiel. »God of War« hingegen fühlt sich an, wie zwei Schulhofbullies, die sich meinen Rucksack immer so zuwerfen, dass ich die Tasche nie erreiche: Ich bin machtlos.