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Scarlet Nexus im Test

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Ich will »Scarlet Nexus« so gerne loben. Schon der audiovisuelle Stil weckt in meinem Bauch eine kribbelige Aufregung, eine Art Nostalgie. Es ist meine Sehnsucht an nie geschaute Animes, die ich als Jugendlicher nur von Bildern, Trailern oder aus dem Musikvideo zu King of my Castle kannte. »Scarlet Nexus« ist zu Beginn genauso cool, wie ich mir japanische Zeichentrick-Science-Fiction lange vorgestellt habe. Doch dann beginnt das Spiel, unter der Last von zu vielen Storytwists und zu wenig Abwechslung zu ächzen und zu schnaufen.

»Scarlet Nexus« erinnert in seinen Grundzügen stark an Astral Chain von Platinum Games: Als Mitglied einer übersinnlich begabten Polizeieinheit wird man in den Kampf gegen die sogenannten Others geschickt, außerweltliche Wesen, die plötzlich auftauchen und die Städte der Menschen angreifen. Aber nicht nur die Geschichte, auch der schicke Anime-Grafikstil und das actionorientierte Gameplay ähneln sich. Doch Astral Chain hat nicht nur mir sehr gut gefallen, sondern hat auch auf Metacritic eine Userwertung von satten 9.0 und ist damit nicht das schlechteste Vorbild, das man sich suchen kann.

Karen und Fubuki gehören zu den Superstars der Truppe.

Abgesehen von seinen Anleihen bei Astral Chain punktet »Scarlet Nexus« darüber hinaus auch mit seinem ungewöhnlich schrägen Gegnerensemble: Man kämpft gegen Blumenvasen(!) mit Beinen und Monstern mit einem ein Heizungsventil im Gesicht. An dem dreht es mit schauderhaft langen Armen, um Wasser und Öl zu verspritzen. Wird man davon getroffen, kann man anschließend leicht elektrifiziert oder in Brand gesteckt werden. Eine andere Gattung versteckt sich wie ein Springteufel in einem Metallwürfel und kann nur besiegt werden, wenn man sich ihm schnell genug nähert, bevor er sich in seine sichere Behausung zurückziehen kann.

Don’t trust New Himuka

Doch natürlich bleibt es nicht bei den Others: Ähnlich wie in The Walking Dead dienen die Monster bald schon nur noch als Kulisse für die Konflikte der Menschen. So macht man bereits früh Bekanntschaft mit den Crows, fliegenden Kameradrohnen. Mit denen überträgt die Presse Kämpfe zwischen Polizisten und den Ungetümen, inklusive aufgeregtem Kommentar, ganz ähnlich wie bei einem Sportevent. Passend dazu feiert die Bevölkerung ihre Retter wie Superstars. Es gibt Merchandise, Poster und junge Frauen, die den Namen ihres Lieblings kreischen. Einer der erfahreneren Kollegen rät sogar, die Medien als Karrieresprungbrett zu verstehen. Wer sich vor den Kameras gut macht, steigt schnell im Rang auf! Doch die Gier der Öffentlichkeit nach Livebildern schafft auch Probleme: Das Blitzlichtgewitter der Kameras kann Others reizen und den Job der Polizisten somit noch gefährlicher machen, als er eh schon ist. Einmal werde ich daher Zeuge, wie das herbeigerufene Team erstmal die Drohnen vernichten muss, bevor es sich um das Monster kümmern kann – und muss damit explizit gegen geltende Regeln der Pressefreiheit verstoßen.

Der Presse entgeht nichts.

Doch New Himuka, der Staat, in dem »Scarlet Nexus« spielt, wirkt nur auf den ersten Blick freiheitlich. Bald stoße ich auf den Begriff der “Controlled Society”. Scheinbar besitzt die Regierung die Hoheit über den Informationsfluss und hat einen geheimen Überwachungsapparat aufgebaut. Auch die verpflichtenden Gesundheits-Checkups des Staates stellen sich als Vorwand heraus. Eigentlich dienen diese nur der Suche nach psionisch Begabten, um sie für den Kampf gegen die Others zwangsrekrutieren zu können. Zudem kommt man bald auf die Spur eines Programms zur Gehirnwäsche, mit der Dissidenten schlicht umprogrammiert werden, um sie wieder auf Linie des Regimes zu bringen. All dies kondensiert in einer deutlichen Warnung an mich und meine Helden: Don’t trust New Himuka!

Mit all dem scheint die Bühne bereitet für eine spannende Dystopie, die meine Phantasie und Neugierde anregt. Ist die Other-Invasion gar nur eine Inszenierung, ein Spektakel für die Massen? Bin ich eigentlich nur ein moderner Gladiator in einem Überwachungsstaat, der die Bevölkerung bei Laune halten soll? Wurde ich gar selbst bereits umprogrammiert? Oder sind das alles nur Verschwörungstheorien von wahnsinnigen Querdenkern und Terroristen? Lange kann man sich in »Scarlet Nexus« nicht sicher sein, wer die Guten und die Bösen sind und auf welcher Seite man selber steht. Genau so habe ich mir das vorgestellt: Sozialkritische Science-Fiction, gekleidet in einen grellen Anime-Stil. Nein, was für ein tolles Spiel!

Worum gings nochmal?

Doch »Scarlet Nexus« macht mit alledem überhaupt nichts. Die Sensationsgier von Medien und Öffentlichkeit hat das Spiel von der einen auf die andere Szene vollständig vergessen. Dabei wird dem Thema zu Beginn so viel Screentime eingeräumt, dass ich kaum glauben kann, dass es sich lediglich versehentlich in die Handlung verirrt hat. Hier muss sich doch irgendjemand etwas dabei gedacht haben! Wo ist der Rest dieser Story?

Selbst unter den Others gehört dieser Boss zu den Schrägeren. Nicht im Bild zu sehen: Im Bauchbereich ist ein Altar eingelassen.

Ebenso wenig wird die Ambivalenz von Gut und Böse zufriedenstellend aufgelöst, noch – was noch besser wäre! – bewusst aufrechterhalten, um die Frage nach Recht und Unrecht an den Spieler weiterzugeben. Stattdessen macht es sich das Spiel einfach: Wer hier böse wirkt, ist auch böse. Konsequenterweise interessieren sich weder »Scarlet Nexus« noch seine Helden dafür, was es bedeutet, in den Diensten eines solchen Regimes zu stehen.

So geht jedes der ursprünglich etablierten Themen bald aus den Augen verloren. Nichts wird weiterverfolgt. Stattdessen driftet die Autoren in eine konfuse Gemengelage aus Animeklischees ab und wechseln nach der Hälfte der Spielzeit neue Übel von der Seitenlinie ein: Plötzlich geht um Zeitreisen, Klon- und Gentechnik, Mondkolonien, Supercomputer und die Rettung der Welt. Mal wieder.

Psychokinese und Feuerschaden

Auch beim Gameplay lässt »Scarlet Nexus« schon bald Schwächen erkennen. Grundsätzlich verlässt man sich auf die etablierte Character-Action-Game-Formel, wie man sie aus Devil May Cry oder eben Astral Chain kennt. Aus der Schulterperspektive verprügelt man mit leichten und schweren Angriffen die seltsamen Wesen, verkettet Angriffe zu Kombos oder schleudert Gegner in die Luft, um sie dort weiter zu vermöbeln. Wie in solchen Spielen üblich, eskaliert das Kampfsystem stetig weiter. Man erhält neue Fähigkeiten, kann längere Angriffsketten schmieden oder löst zeitlich begrenzte Phasen aus, in denen man über sich hinauswächst und superstark wird.

Lange Arme, lackierte Fingernägel, Hufe, ein Ventil: Gegnertypen wie dieser hier lassen sich mit Worten kaum beschreiben.

Hinzu kommen die übersinnlichen Fähigkeiten. Grundsätzlich ist man mit Psychokinese ausgestattet: Über die Schultertasten kann man Gegenstände in der Umgebung aufnehmen und auf Gegner schleudern. Das klappt gut und macht Spaß: Psychokinese ist fast durchgehend verfügbar, das Herumschleudern von Dingen geht leicht von der Hand und die Einschläge fühlen sich befriedigend an. Außerdem kann man sich die besonderen Fähigkeiten von seinen Teamkameraden leihen. Dadurch erhält man zum Beispiel Feuer- und Elektroschaden, kann die Zeit verlangsamen, sich herumteleportieren (um etwa den Springteufel von oben zu überwältigen!) oder unsichtbare Gegner aufspüren. Entsprechend reagieren Gegner meist auf die ein oder andere Fähigkeit besonders anfällig, so dass man vor allem ab der zweiten Hälfte des Spiels wild hin- und herwechselt und Cooldowns und Timings im Auge behalten muss.

Spannend wie eine Autobahn

Leider sabotiert »Scarlet Nexus« sein grundsätzlich spannendes Gameplay durch Eintönigkeit häufig selbst. So ist das das Leveldesign über große Teile stinklangweilig. Die spannenden Sci-Fi-Vistas, die man zu Beginn des Spiels am Horizont sehen kann, bleiben unbesucht. Stattdessen läuft man über breite Autobahnen, durch U-Bahn-Tunnel, über Baustellen oder rechteckige Krankenhausflure. Ganz ähnlich wie bei der Story deutet Scarlet Nexus hier zunächst Dinge an, die es nie einlöst. Dieser Eindruck ändert sich erst sehr spät im Spiel, wenn tatsächlich zunehmend abgedrehte Orte aufgesucht werden.

Ein Stadtlevel wie hier gehört noch zu den visuell aufregenderen Teilen des frühen Spiels

Aber nicht nur die Szenenauswahl selbst ist weitestgehend öde, auch die Einrichtung der Areale fällt negativ auf. Selbst für eine Autobahn ist der Autobahnlevel ziemlich langweilig! Doch die Probleme gehen noch weiter, denn es genügt dem Spiel nicht, mich einfach nur von einer Baustelle auf eine Autobahn in einen U-Bahn-Tunnel zu schicken. Es will auch, dass ich die exakt selben Level im Verlauf der Handlung immer wieder erneut besuche…

Nicht besser wird es dadurch, dass »Scarlet Nexus« bei der Anzahl der Gegnergruppen häufig über die Stränge schlägt. Obwohl das Spiel grundsätzlich eines mit hohem Redeanteil ist und regelmäßig von Videosequenzen unterbrochen wird, ziehen sich manche Gameplaypassagen wie zu feuchter Hefeteig. Ständig wird man in den gleichförmigen Fluren und Räumen der Spielwelt in Gegnergruppierungen geworfen, die man so oder so ähnlich bereits zur Genüge erledigt hat. Hinzu kommt, dass der Zeitaufwand zum Besiegen vieler Standardgegner trotz niedriger spielerischer Herausforderung recht hoch ist. Viele der Gegner haben Fähigkeiten, mit denen sie sich Angriffen entziehen und ihre Schwachstellen schützen. Gepaart mit hohen Lebenspunkten und Fähigkeiten, die es nötig machen, sich neu zu positionieren, wird das Spiel häufig zur anstrengenden Fleißarbeit.

Die meisten Storysequenzen bestehen aus solchen vertonten Comicpanels. Die sind leicht animiert und passend hervorragend zum Stil des Spiels.

Scarlet Nexus kann sich nicht entscheiden

»Scarlet Nexus« großes Problem ist seine Maßlosigkeit. Es stecken viele Geschichten im Spiel, die es wert wären, erzählt zu werden. Leider versuchen die Autoren, sie alle gleichzeitig unterzubringen – und das geht schief. Würde es sich auf eine Sache konzentrieren und diese richtig inszenieren, das Ergebnis wäre höchstwahrscheinlich ein wesentlich besseres. In dieser Form jedoch fehlt mir die emotionale Verbindung zu all den parallelen Handlungen. Der Tod von Charakteren, der Ursprung der Other, die Motive und Konflikte der verschiedenen Fraktionen, sowie zahlreiche kleinen Geschichten am Wegesrand: Alles verpufft, weil auf nichts ausreichend hingearbeitet wird.

Ähnlich ausschweifend agiert »Scarlet Nexus« bei Regie und Pacing der Kämpfe. Die Level sind gerade gegen Ende zu lang, die Menge der Begegnungen zu groß, die Gegnergruppierungen zu gleichförmig und einzelne Gegner zu ausdauernd. Der größte Fehler ist allerdings, dass die an sich schon nicht sonderlich spannenden Level wieder und wieder recycelt werden. Ein halb so langes Spiel ohne Wiederholungen wäre eine erheblich bessere Erfahrung gewesen, auch, weil man dann gezwungen gewesen wäre, sich von vielen der Storywucherungen zu trennen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

So wird »Scarlet Nexus« insbesondere von seiner grandiosen Optik getragen. Bereits das Sichten meiner Screenshots für diesen Artikel war verführerisch genug, um mir wieder Lust aufs Spiel zu machen. Aber ich weiß es ja mittlerweile besser: Von den vielen Wiederholungen, langwierige Kämpfe und der wirren Story hatte ich schließlich schon beim ersten Mal genug. Übrig bleibt ein in seinen Grundzügen unterhaltsames Actionspiel, das leider weit hinter seinem Potential zurückbleibt. Schade.

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