Zockwork Orange

Review: Dishonored

Es gibt leider viel zu wenige Steampunkspiele. Dabei ist das Szenario doch eigentlich ziemlich cool: Stilvolle Klamotten aus der Jahrhundertwende, Dampftechnologie, Teslaspulen an jeder Ecke und völlig abgedrehte Maschinen. Mal abgesehen von »Arcanum – Of Steamworks and Magick Obscura« und der »Thief«-Reihe ist das Angebot allerdings hauchdünn und die eben genannten Beispiele haben schon ein paar Jahre mehr auf dem Buckel. Bis jetzt! Seit dem 11.10. gibt es nämlich Dishonored für den PC und Konsolen.

Der „Dishonored-Marine“

In unserer »Dishonored«-Preview von der diesjährigen gamescom habe ich ja schon gesagt, dass ich große Hoffnung und Erwartungen für dieses Spiel hege, aber auch die Befürchtung, dass der stumme Protagonist der wirklichen Gaming-Glorie einen leichten Abbruch tun könnte. Ganz so schlimm ist es dann nicht geworden, aber verglichen mit Garrett aus dem großen Vorbild »Thief«, wie das Team von Arkane selbst zugegeben hat, bleibt der magische Attentäter Corvo doch ein wenig blass. Alles, was man von ihm erfährt, ist, dass er der oberste Leibwächter der Herrscherin des Stadtstaates Dunwall war, bis diese am Anfang des Spiels einem Komplott zum Opfer fiel, zu dessen Sündenbock Corvo gemacht wird. Die wenigen verbliebenen Loyalisten befreien ihn nach sechs Monaten aus dem Gefängnis, eine Art Dämon verleiht ihm magische Fähigkeiten und danach ist es seine Mission die Verschwörer zur Strecke zu bringen und seinen Namen wieder rein zu waschen. Ich verstehe, dass manche Entwicklerteams der Meinung sind, dass ein stummer Held es leichter für Gamer macht, sich mit dem Protagonisten zu identifizieren, aber ich glaube, das stimmt nicht. Gerade der Hauptcharakter sollte doch genau das am meisten haben – Charakter. Die größten und beliebtesten Spielehelden der Geschichte waren alle nicht stumm (von der 8 bis 16-Bit-Ära mal abgesehen, denn da gab es ja eh keine Sprachausgabe): Solid Snake, Dante, Max Payne, Garrett, Kratos. Niemand erinnert sich an Doom, weil es so cool war, dass der Marine die ganze Zeit die Klappe gehalten hat!

Was den Rest angeht: Dishonored ist ein tolles, wenn auch etwas kurzes Spiel. Zumindest ist es kurz für die meisten Leute, denn die dürften wohl in 10 bis 15 Stunden durch die Levels rennen, was ja auch durchaus möglich und noch nicht einmal besonders schnell ist. Wenn man allerdings so drauf ist wie ich und in jeder Mission einen perfekten Run hinlegen will, sich jede Notiz und jedes Buch anschaut und nach allen Geheimräumen sucht, kann man ungefähr das Doppelte rechnen. Was soll ich sagen? Stealthspiele wecken den Zwangsneurotiker in mir. Ich will jede Situation möglichst elegant lösen, ohne entdeckt zu werden und nichts zaubert mir ein fieseres Grinsen auf die Lippen, als zu zu sehen, wie Wachen und Zombies von befreiten Rattenschwärmen und Sprengfallen in Fetzen gerissen werden, nachdem ich mir vorher in mühevoller Kleinarbeit ihre Laufwege eingeprägt habe, ohne, dass irgendwer etwas geahnt hätte. »Dishonored« ist ein Abenteuerspielplatz für Meuchler, mit vielen Optionen, Lösungswegen und Techniken, was für einigen Wiederspielwert sorgt.

Schöner sterben

Manchmal wissen die Designer aber scheinbar selber nicht, was sie wollen. Man kann durch jedes Level gehen, ohne auch nur eine einzige Person auszuschalten. Selbst für die eigentlichen Anschlagsziele gibt es nicht-tödliche Wege, diese aus dem Weg zu räumen. Allerdings ist so gut wie jede Fähigkeit und jede Waffe darauf ausgelegt, dass man ganze Straßenzüge entvölkert und wenn man das tut, rutscht man immer weiter in Richtung eines düsteren Endes der Geschichte, gibt es doch ein “gutes” und ein “schlechtes” Ende der Kampagne. Es ist eben doch schwerer, ein guter Mensch zu sein. Selbst als Attentäter in einer von Seuchen zerfressenen pseudo-viktorianischen Metropole. Daher mein Vorschlag, wenn ihr alles von der Story sehen woll: Spielt das Spiel zweimal, einmal für jedes Ende. Es ist so ähnlich wie »Hitman: Bloodmoney«: Da gibt es jede Menge Granaten, Maschinengewehre, Maschinenpistolen und so weiter, aber die wirklichen Spezialisten benutzen die Garotte und das Wurfmesser, aller höchstens vielleicht noch schallgedämpfte Silverballer. Was für Agent 47 die Maschinenpistolen sind, sind für Corvo Attano die Granaten und Napalmpfeile. Dazu kommt, dass ein paar Fähigkeiten gerade später im Spiel etwas übermächtig werden, darunter der „Shadow Kill“, mit dem Gegner zu Asche zerfallen, wenn sie sterben. Dadurch wird etwa die Schwierigkeit, die Körper von Gegnern beiseite schaffen zu müssen, um nicht entdeckt zu werden ausgehebelt.

Versteckte Qualitäten

Die Umgebungen von Dunwall sind extrem atmosphärisch. Mit einem düsteren, stark überzeichneten Comiclook haben die Arcane Studios eine dystopische Welt geschaffen, die an das London oder Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts erinnert. Überall flimmern Gaslaternen, Ratten quieken und immer wieder schnappt man liebevoll vertonte Gespräche zwischen Wachen, Gangmitgliedern und Passanten auf. Möchte ich als Spieler einen Mehrwert aus dieser Welt ziehen und mehr über sie erfahren, kann ich an jeder Ecke Bücher mit kurzen Geschichten und Einträgen über die Kultur des Inselstadtstaates finden, wodurch viele Gespräche und Andeutungen im Spiel sehr viel glaubhafter werden. Spätestens, wenn man es später im Spiel häufiger mit Opfern von besagter Seuche zu tun bekommt und überall in den halbverfallenen Straßen deren unverständliches Geflüster und Geschrei hört, kommt eine sehr dichte Horrorstimmung auf.

»Dishonored« ist eine Art Spiel, wie es sie nicht mehr so häufig gibt, allein schon wegen des Szenarios. Statt euch als Spieler ans Händchen zu nehmen und sanft auf Schienen durch Schlauchlevel zu schubsen, wird euch selbst in die Hand gelegt, wie ihr bestimmte Situationen angeht und eure Aufgaben löst. Auch wenn ich mir einen Helden mit deutlich mehr eigener Identität und vielleicht ein paar Missionen mehr gewünscht hätte, durch die die Entwickler die Haupthandlung noch etwas weiter hätten ausbauen können, mag ich dieses Spiel sehr. Es ist optisch und spielerisch sehr anders als der etablierte Standard und die Entwickler haben sich nicht gescheut, auch mal ein wenig zu experimentieren. Die Schwächen treten angesichts dessen, was der Titel gesamt darstellt, absolut in den Hintergrund, was »Dishonored« in meinen Augen zu einem der besten, weil ungewöhnlichsten, Schleichspiele der letzten Jahre macht.

httpv://youtu.be/rUtX8pFl6Wc

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