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Review: Deus Ex – Human Revolution

Ja, liebe Kinder. Deus Ex, das ist das Spiel, bei dem eure Gaming-Eltern immer feuchte Augen bekommen, sobald es erwähnt wird. Every time you mention it, someone will reinstall it. Das Ocarina of Time der DOSen-Zocker. Waren das noch Zeiten, heute nur noch Schlauchlevels und selbst Duke Nukem kann Autoheal. Ist doch alles Scheiße, schreien sie. Deus Ex, das war noch ein richtiges Spiel. Sowas müsste mal wieder kommen, mit etwas besserer Grafik vielleicht, aber muss auch nicht. Die gute Nachricht vorab: Genau das bietet euch DEUS EX: HUMAN REVOLUTION. Hurra, oder? Eigentlich könntet ihr jetzt aufhören zu lesen, losrennen und euren Software gewordenen Messias in Empfang nehmen. Die schlechte Nachricht, die ihr vermutlich dann nicht hören wollt: Nicht nur die Spielewelt hat sich weiter entwickelt, sondern auch ihr. Eure Gewohnheiten, eure Ansprüche, euer Spielverständnis. Deus Ex aber ist stehengeblieben. Hm, vielleicht doch erstmal weiterlesen?

Im Jahre 2027 (25 Jahre vor Deus Ex 1) ist Adam Jensen Sicherheitschef der Firma Sarif Industries, welche Augmentierungen – also künstliche Körperverbesserungen, mit denen man besser laufen, werfen, sehen, denken kann – herstellt. Diese Augmentierungen sind umstritten, eine Terrorgruppe namens Purity First ist beispielsweise der Ansicht, dass der menschliche Körper perfekt ist und nicht angepasst werden sollte. Ein weiteres Problem, das Augmentierungen mit sich bringen, ist Abhängigkeit: Damit der Körper das fremde Organ nicht abstößt, muss der Träger ständig ein Medikament zu sich nehmen, das nicht ganz billig ist. Grund genug, dass ein paar Bomben bei Sarif Industries hochgehen und natürlich Purity First zunächst verdächtigt wird. Schnell stellt sich jedoch heraus, dass einer der Attentäter augmentiert war und Jensen nimmt die Ermittlungen auf.

Unabhängig von den tatsächlichen Ereignissen im Spiel rückt Human Revolution stets die Frage in den Vordergrund, ob Augmentierungen ethisch vertretbar sind oder nicht. Diese Glaubensfrage zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Spiel und wird durch die Radikalität der einzelnen Parteien auch hinreichend plakativ dargestellt. Immerhin, es hat dafür gesorgt, dass ich mich am Wochenende mit zwei Freunden darüber unterhalten habe, ob wir uns augmentieren lassen würden. Aus einer spaßigen Frage in Bierlaune wurde dann doch eine recht lange, intensive Diskussion, die zu keinem eindeutigen Ergebnis führte. Human Revolution merkt man ständig an, dass es zu genau dieser Diskussion motivieren will. Das Spiel präsentiert die Gründe für Augmentierungen sehr cool und die Gründe dagegen sehr erschreckend. Die Hauptmotivation der Story erfüllt es somit ausgezeichnet.

Aus hier nicht zu spoilerndem Grund ist Jensen selbst augmentiert, was dem Spiel natürlich eine hervorragende Grundlage bietet, den Spieler nach und nach richtig coole Skills freischalten zu lassen und gleichzeitig rollenspielmäßig zu entscheiden, auf welche Aspekte er sich konzentrieren will: Lieber das Kampfschwein mit zusätzlicher Lebensenergie und Hautverstärkung oder der sneaky bastard mit Tarnvorrichtung und Beindämpfung für lautlose Schritte? Die Auswahl und Sammlung an Ideen hier ist einfach großartig und jede Punktevergabe macht gleich einen direkten Effekt an Jensen sichtbar. Weg von dem öden Spieler ist jetzt 3% besser gegen diese bestimmte Sorte Gift geschützt. Selbst der Autoheal-Kotau vor den Noobs lässt sich so den alten Hasen erklären – nicht ungeschickt, liebe Designer! Jedoch nicht bloß Feindkontakt, auch der übrige Spielverlauf ist sehr variabel und bietet entsprechend der persönlichen Augmentierungswahl verschiedene Möglichkeiten: Um ein abgesperrtes Gelände zu betreten, könnte ich mit meinen starken Beinen über den hohen Zaun springen, mit meinen starken Armen den schweren Müllcontainer beiseite schieben, mit Pheromonen und Sozialscanner die Wache becircen, ihr die zuvor gefundene Zugangskarte zeigen oder sie ganz einfach mit Geld bestechen. Ach ja, oder abknallen. In jeder solcher Einzelsituationen gibt es immer mehr als eine Möglichkeit. Das ist absolut deusexy, super durchdacht und macht ohne Ende Spaß!

Nun ist Human Revolution auch in jüngerer Vergangenheit nicht das erste Spiel, bei dem ich mich zwischen friedlichem Schleichen und bein’ John Rambo entscheiden darf/kann/muss. Gourmets erinnern sich an das großartige Alpha Protocol aus dem letzten Jahr und dessen großen Schwachpunkt: die Bossgegner. Hyperaktive Gunslinger gegen die der schleichende Nahkämpfer keine Chance hatte. Da biss man schon in so manches Gamepad, bis man unverhofft Hilfe durch die KI-Bugs bekam. Human Revolution macht fast den gleichen Fehler: Achievement “Töte im ganzen Spiel niemanden (does not apply to Endgegner)” – das liest sich unter dem Rollenspielaspekt nicht bloß absurd, sondern auch ätzend zu spielen. Als hühnerbrüstiger Hacker mit einem Elektroschocker gegen granatenschleudernde Söldner antreten? Nicht cool. Fair ist immerhin, dass Adam Jensen zumindest schießen kann. Ich muss nicht wie bei Alpha Protocol den Fernwaffenskill leveln, damit er nicht mehr künstlich vorbei schießt. Und auch Waffen und Munition liegen bei den Bossen herum, das ist eigentlich nicht das Problem. Aber: nur weil Jensen theoretisch schießen kann, kann ich das noch lange nicht. Wenn ich angeblich immer die freie Wahl habe, eine Aufgabe zu lösen, warum nicht hier? Warum hält mich der böse Mann fest, sobald ich ihm zu nahe komme? Warum kann ich ihn nicht einfach mehrfach von hinten schlagen? Hier hätte viel Frustpotential verhindert und gleichzeitig die Spielphilosophie konsequent durchgezogen werden können.

Abgesehen davon funktioniert Human Revolution aber am besten als Spiel, in dem ich schleiche, hacke, social engineere. Es ist abwechslungsreicher, spannender, stylisher und den Fallback zum Geballere habe ich ja immer. Das Herauszoomen von der First- in die Third-Person-Perspektive wirkt einfach nur cool, das Deckungssystem mit der Wahl zwischen Sprung zur nächsten Deckung und Sliden um die Ecken funktioniert tadellos. Natürlich kann ich das Spiel auch als reinen Shooter spielen, aber dafür bin ich persönlich einfach zu schlecht. Und über Ego-Shooter plus Xbox-Controller könnte man jetzt auch stundenlang streiten… sagen wir so: für mich ist es nichts. Aber das muss es auch gar nicht sein, jeder nach seiner Façon, das ist ja Grundaussage des Spiels.

Und hier droht ein elementares Missverständnis: Bei diesem “Ich habe immer die freie Wahl, was ich wie erledige” schwingt für mich der klassische Open-World-Gedanke mit. Aber Human Revolution verschweigt die halbe Wahrheit, der Satz müsste nämlich mit “…innerhalb einer Mission, die wiederum innerhalb eines festen Gesamtablaufs stattfindet” weitergehen. Nennen wir es doch beim Namen: Man klappert Level für Level ab und kann jedes auf diverse Arten lösen. Das ist total super und bockt ohne Ende, aber man muss sich bewusst sein, dass dies vollkommen invers zu dem Open World-Gedanken ist, wo man mit Sidequests zugespammt wird und diese meistens nur auf eine Art lösen kann. Da macht es einfach die Masse, dass man sich aussuchen kann, was einem am meisten zusagt. Und vor allem: In welcher Reihenfolge man die Aufgaben löst.

Nicht jedes Spiel muss ein Open-World-Spiel sein, doch Deus Ex gaukelt es einem etwas zu oft vor und steht sich dann auch behäbig selbst im Weg: Warum kann ich meiner Helikopterfrau in Shanghai nicht sagen, dass ich nochmal nach Detroit zurück möchte? Warum werden Nebenmissionen bei Verlassen des Levels einfach abgebrochen und können bei eventueller Rückkehr nicht noch einmal aufgenommen werden? Es wird doch auch so jeder State festgehalten, Leichen befinden sich an ihrem Lageplatz bis zur nächsten Eiszeit, die schafft auch nicht mal jemand weg.

Grundlage für diese Absurdität ist die Bürokratie des starren Regelwerks, das vom Spiel buchstabengetreu befolgt wird: Irgendwann weiß man einfach etwas zu genau, wie man sich nur wenige Zentimeter an einem Gegner vorbei schleichen kann, ohne entdeckt zu werden. Dass das Treppenhaus einer Polizeistation ein sicherer Aufbewahrungort für Leichen ist, denn es kommt ja niemals jemand vorbei. Und wenn ich außerhalb der entsprechenden Mission einen gesuchten Terroristen betäube und einem Polizisten vor die Füße lege, schießt dieser auf mich, weil ich mich durch das Rumschleppen eines Körpers ja verdächtig verhalte. Sobald man ein wenig kreativer wird, merkt man, dass vieles einfach nicht zuende gedacht wurde und bei Human Revolution stets Dienst nach Vorschrift gilt.

Eine weitere Facette dieser Eindimensionalität ist die Vergabe von Erfahrungspunkten, die sehr stupide abläuft. Wenn ich eine Tür erfolgreich hacke, bekomme ich dafür EP. Wenn ich vorher alles penibel abgesucht habe, ein PDA mit dem Zugangscode gefunden habe und diesen eingebe (was die tausendmal elegantere Variante ist), bekomme ich genau gar nichts. Ich habe ja nichts “anstrengendes” geleistet. Wenn ich ein Gebäude komplett in jedem Winkel abgesucht habe und von außen genau gesehen habe, welcher Lüftungsschacht wohin führt, bekomme ich den EP-Bonus “Reisender” nur, wenn ich nochmal pro forma den Schacht betrete. Gleiches gilt für Hinterzimmer von Geschäften. Nichts drin, aber hey, 100 EP fürs Reingehen bekommen. Das ist pures, stumpfsinniges Grinding. Warum werden die EP nicht dafür vergeben, dass ich ein Ziel erreicht habe und dann nochmal Boni für eine elegante Lösung? Das gibt es so zwar für ganze Missionen, aber nicht für elementare Teile wie “Gebäude erfolgreich (unbemerkt?) betreten” – da kennt das Spiel nur das Hacken der Tür, das Betreten des Lüftungsschachts, das Eliminieren des Wächters. Im Gesamtkontext ist dies zu feingranular.

Technisch hat sich Eidos Montreal auch nicht gerade ein Bein ausgerissen. Ich mag die Grafik mit ihrem stets dunkel-goldenen Touch – schönes, atmosphärisches Artdesign – aber detaillierte Texturen sehen anders aus. Sprachen-Purity First-Anhängern in Besitz einer Konsole rate ich dringend, das Spiel in UK zu bestellen: Die Silberscheibe für die Xbox 360 beinhaltet aus Platzgründen hierzulande nur die deutsche Version. Bei der Bluray-Disc für die PS3 ist die völlig hirnrissige Auswahl zwischen Deutsch, Französisch, Italienisch und Spanisch zu treffen. Da ich das Spiel somit auf Deutsch spielen musste, fiel mir die durchgehend sehr miese Lippensynchronität auf: Es passiert dauernd, dass Jensen die Lippen geschlossen hat und noch sekundenlang weiter redet – sehr lieblos. Ansonsten geht die Übersetzung der Dialoge aber in Ordnung. Negativ fallen wiederum die langen Ladezeiten auf, was vor allem bei den Trial & Error-Anläufen für Endgegner nervt. Die Kämpfe finden doch immer nur in kleinen Räumen statt, das hätte man doch mal echt bequem cachen können statt alles immer neu zu laden. Nettes Feature für die 360-Besitzer übrigens: Wer ein Chatpad hat, kann das für die Eingabe von Zugangscodes und Passwörtern verwenden.

Fazit: Deus Ex: Human Revolution ist eine erfrischende Nostalgie für Old-School-Gamer, Soll heißen: Ein Deus Ex 1 mit besserer (wenn auch nicht ganz state-of-the-art) Grafik. Gut, damit haben wir also offiziell das beste Spiel aller Zeiten, vielen Dank, Fabian. Nein. Denn Human Revolution erbt auch genau die Macken des ersten Deus Ex: Eine vermeintlich offene Welt ist letztlich nur eine Aneinanderreihung von hermetisch abgeriegelten Levels, die ich auf verschiedene Arten durchwandern kann. Das ist auf seine Weise toll und macht einen Heidenspaß. Doch das Regelwerk in diesen Levels ist eine dermaßen enge und deterministische Korsage, die mir ständig die Luft abschnürt und klar macht, dass ich hier gerade ein Computerspiel spiele – und nicht mehr. Immersion ist vielleicht das wichtigste Element von aktuellen Videogames und gute Open-World-Games wie ein Oblivion oder Fallout 3 schaffen es mit Leichtigkeit, zwischendurch das Tempo herauszunehmen und den Spieler dennoch in der Welt versunken zu lassen. Human Revolution übernimmt aus diesen Spielen diverse Elemente und gibt dadurch vor, auf Augenhöhe mitzuspielen. Und hier verpasst es leider den Anschluss – dabei verlangte das überhaupt niemand. Schade, denn wozu diesen Hipsterkram mitmachen und nicht einfach nur stolz die Cojones zeigen anhand dessen, was es am besten kann: Ein verdammt gutes Deus Ex sein.

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