Zockwork Orange

Review: Alpha Protocol

Ich glaube, kein Spiel hatte es jemals so schwer bei mir, wie ALPHA PROTOCOL von Obsidian Entertainment (Knights of the Old Republic 2, Fallout: New Vegas). Zunächst hatte ich mich nicht für die Vorabberichte interessiert, dies schloss auch mit ein, dass die ganzen mäßigen bis miserablen Testbewertungen an mir vorbei gingen (was sich im Nachhinein als Glücksfall heraus stellte). Dann wollte ich im Laden eigentlich ein anderes Spiel umtauschen und mir dafür Assassin’s Creed II mitnehmen, was sie aber nicht da hatten. Enttäuscht griff ich eher frust- statt lustvoll zu Alpha Protocol. Nach der ersten Spielstunde bereute ich meine Wahl bitter: “Was hast du dir denn da für einen Schrott ins Haus geholt?” Jetzt, ein Wochenende später, an dem ich das Spiel so verschlungen habe wie seit Ewigkeiten kein anderes, ist mir klar: Alpha Protocol ist meine Überraschung des Jahres.

Worum geht’s? Man spielt in diesem Action-RPG den US-Geheimagenten Michael Thorton, der – um mal den Ralf zu zitieren – eine Mischung aus den drei JB’s darstellt: James Bond, Jack Bauer und Jason Bourne. In der Spionage-Story geht es darum, einem Waffenhersteller das Handwerk zu legen, der über terroristische Anschläge den Dritten Weltkrieg provozieren will, um seine Waffen besser verkaufen zu können. Natürlich steckt die Regierung irgendwie mit drin, Verschwörungstheorien, ihr kennt das ja. Das Alpha Protocol ist dabei das Geheimprogramm, in dessen Rahmen Thorton ballert, erpresst, verprügelt und mit Frauen flirtet.

Momentan ist es bei Spielen ja völlig en vogue, auf dieser “Deine Entscheidungen haben Einfluss auf den Storyverlauf”-Welle mitzufahren. Bis Alpha Protocol glaubte ich dem Schwachsinn kein Wort mehr, spätestens als Heavy Rain sich diesbezüglich als völlig heiße Luftblase outete: Klar macht es einen Unterschied, wenn einer meiner Spielercharaktere stirbt, weil ich dann einfach weniger Optionen zur Verfügung habe. Aber ob ich jetzt diesen NPC erschieße oder nicht, who cares? Ein minimaler Schlenker auf einem schnurlinearen Storyweg, wenn überhaupt. Noch lächerlicher war das Psycho-Blabla bei Silent Hill: Shattered Memories. Anders bei Alpha Protocol: In einer Mission habe ich eher aus Gedankenlosigkeit zwei CIA-Agenten in Brand gesetzt. Dies wurde mir noch Spielstunden später von diversen Leuten vorgeworfen und hatte offenbar Einfluss auf ein Angebot, das mir daraufhin gemacht wurde. Ob mir das Angebot auch sonst gemacht werden würde, kann ich ohne erneutes Durchspielen nicht sagen, aber die Argumentation war lupenrein abgestimmt, die Immersion perfekt. Und ich könnte noch einige Beispiele mehr nennen.

Das einfach-geniale Dialogsystem

Denn Alpha Protocol hat eine wahnsinnig große Stärke: die Dialoge. Nachdem durch den Multiple Choice-Stil á la Monkey Island ein Quasi-Standard eingeführt wurde, an dem sich seit 20 Jahren nichts groß geändert hat, bringt Alpha Protocol mal eben ein neues, bahnbrechendes System. Ich bin einfach nur begeistert – stellt es euch so vor: Gespräche laufen in Echtzeit ab und man hat immer mal wieder unter Zeitlimit die Möglichkeit, die Richtung zu steuern, also beispielsweise “aggressiv”, “zurückhaltend”, “lässig” und so weiter. Die gewählte Ausrichtung bestimmt die nächste Antwort, die sich zeitlich nahtlos in den Verlauf einfügt und somit einen tatsächlichen Gesprächsfluss simuliert. Dementsprechend findet mich mein Gesprächspartner gut oder auch nicht, verpasste Möglichkeiten kommen nicht mehr wieder. Dies fühlt sich viel realistischer an, als diese ewige “Anything else you can tell me?“-Endlosschleife, wo man so lange redundant die Sätze abklappert, bis nichts mehr übrig ist.

Die einzige Schwäche hier ist, dass der Bezug vorher häufig nicht ganz deutlich wird. Richtet sich “aggressiv” gegen meinen Gesprächspartner oder bezieht es sich auf das Thema und ich möchte nur mitteilen, dass ich den Ober-Bösewicht zur Schnecke machen werde? Das weiß man erst, wenn man es ausgesprochen und es sich womöglich mit dem Gesprächspartner verscherzt hat. Aber sei es drum – Kinderkrankheiten. Das hier ist die Zukunft.

Ähnlich funktioniert auch die Kommunikation via E-Mail. Auch hier kann man bei Antworten zwischen “aggressiven”, “professionellen” etc. Texten wählen. Sofern der Empfänger nochmal auf die Mail antwortet, nimmt er genau Bezug auf den eigenen Text. Genau so will ich das haben, warum sind E-Mails in anderen Spielen immer noch nicht mehr als Einweg-Memos? Liebe Entwickler, bitte mal bei Alpha Protocol spicken, so wird es gemacht!

Ein weiterer, sehr subjektiver Pluspunkt: Es fühlt sich irgendwie sehr nach Deus Ex an, ich kann nicht genau beschreiben, wieso. Nachdem Deus Ex aber locker das beste Spiel aller Zeiten ist, verstärkt das den positiven Eindruck von Alpha Protocol um so mehr.

Entscheidungen wirken sich hauptsächlich als Perks aus, von denen es Massen gibt

Kommen wir zu der Schattenseite, die leider 80% des Spiels ausmacht – die Third-Person-Action. Denn die spielt sich wie Uncharted in ganz schlecht. Dass die Abenteuer um Nathan Drake hier spielerisch Pate standen, merkt man an vielen Stellen – beispielsweise bei dem Granatenwerfen, das 1:1 geklaut wurde. Aber die Grafik ist allenfalls unteres Mittelmaß. Die Gegner-KI ist unterirdisch, Deckung ist hier ein Fremdwort. Das Kämpfen geht nicht flott von der Hand, sondern fühlt sich ungenau und behäbig an. Okay, das komplett wirre Inventarmenü bediente ich nach einer Weile im Schlaf, so dass es wohl doch nicht ganz so wirr ist. Dennoch sollte zumindest jeder PS3-Besitzer das Gebotene als Majestätsbeleidung empfinden, auf der XBox gibt es mit Mass Effect und Co. sicher vergleichbare Benchmarks.

Das Bild drückt prima die Unbeholfenheit des Kampfsystems aus

Das Balancing ist ebenfalls grauenhaft – einen Boss mit fiesen Messern empfand ich als unbesiegbar, da ich mich auf Tarnung und Nahkampf spezialisiert hatte, zusätzlich rief er immer Helfer dazu. Mit meinen Fernwaffen konnte ich mangels Skill nicht punkten, ich fand einfach keine passende Strategie. Beim 20. Versuch hat es plötzlich geklappt, er griff kaum noch zu den Messern, sondern ballerte blöd in der Gegend rum und rief auch keine Helfer mehr. Glück für mich, aber da hat mir wohl eher eine weitere Schwäche in der KI geholfen. Unbefriedigend. Minigames wie Rechner hacken und Schlösser knacken sind auch eher nervig als herausfordernd. Und zwei Komplettabstürze des Spiels runden das miserable Technikbild ab (PS3).

Alpha Protocol (PC, Xbox 360, PS3)
Entwickler: Obsidian Entertainment
Publisher: Sega
Erscheinungsdatum: bereits erschienen.
USK-Einstufung: ab 16

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Fazit: Alpha Protocol ist ein Rohdiamant, ein schlampig ausgeführter Geniestreich. Brilliant, wegweisend und voller Fehler und Macken. Ohne seine Ecken und Kanten hätte es Hype-Spiele wie Mass Effect oder Heavy Rain locker rechts überholt, indem es bei dem Mode-Thema “Entscheidung = Einfluss auf’s weitere Spiel” neue Maßstäbe setzt. So bleibt es aber der sympathische Underdog, technisch plattgewalzt von den Triple-A-Blockbustern. Völlig unverständlich sind für mich andererseits die vielen schlechten Kritiken. Destructoid hat beispielsweise erbärmliche 2/10 Punkte vergeben, es also irgendwo unter Moorhuhn und Traktor Simulator eingestuft. Da frag ich mich echt, wie betriebsblind man geworden sein muss, um die vielen genialen Ansätze nicht mehr zu erkennen. ALPHA PROTOCOL hat es jedenfalls völlig überraschend in meine bisherige Top 5 des Jahres geschafft.

Fun Fact: Wie eingangs erwähnt, war Obsidian Entertainment ja auch für KotOR II verantwortlich, welches laut Wikipedia ebenfalls für seine Unfertigkeit abgestraft wurde. Und einige meiner ZwO-Kollegen freuen sich ja sehr auf Fallout: New Vegas, da bin ich ja sehr auf die Reaktionen gespannt.

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