Ich habe zu seiner Zeit nie das mittlerweile legendäre »System Shock 2« gespielt. Als ich es über ein Jahrzehnt nach Release nachholen wollte, war ich eher mäßig beeindruckt. Es stammte aus einer Zeit, in der 3D-Welten noch in den Kinderschuhen steckten und viele moderne Gewohnheiten noch nicht etabliert waren. Auch von »System Shock 2« inspirierte Titel, wie etwa »Bioshock«, haben mich nie restlos überzeugt. Und jetzt kommt »Prey« und plötzlich verstehe ich.
Es sind gar nicht so sehr Geschichte und Erzählweise, die mich ans Spiel fesseln. Beide Aspekte sind gewöhnlich: Man erwacht ohne Erinnerungen auf einer Raumstation, irgendwas ist schief gelaufen. Experimente, Aliens, Sabotage und nun geht alles den Bach runter. Wie im Genre üblich, puzzelt man sich die Story im Verlauf des Spiels über E-Mails, Audiobotschaften und Notizen zusammen. Dabei fügt »Prey« der Science Fiction allerdings nicht einen neuartigen Gedanken hinzu. Zwar ist die Erzählung kein Desaster, ich habe gerne jedes Audiolog, jede Notiz, jede E-Mail gelesen und nach ihnen Ausschau gehalten. Sie wurde nur schon hunderte Male erzählt.
Nein, was mich an »Prey« fasziniert ist die Raumstation Talos I. Vielleicht nie zuvor habe ich in einem Videospiel eine ähnlich glaubwürdige, in sich geschlossene Spielwelt gesehen. Rapture hatte den innovativen Art-déco-Stil, aber Talos I lebt und atmet. Ich glaube zu jedem Zeitpunkt, dass ich mich auf einer Raumstation befinde, die einen Zweck hat. Eine Raumstation, die von Experten mit Bedacht konstruiert wurde und auf der echte Menschen leben und arbeiten. Es wird nicht vorgegaukelt, ich befände mich in einer weitläufigen Anlage, während mich in Wahrheit günstig platzierte Hindernisse immer wieder zurück in einen linearen Schlauch zwängen. Die Decks der Station bestehen aus zahlreichen Etagen voller interessanter Architektur, wie Galerien, Gängen, Brücken. Hier gibt es Abzweigungen, Aufzüge, Wahlmöglichkeiten und Gelegenheiten für halsbrecherische Sprünge.
Mach doch was du willst
Der zweite wichtige Faktor: »Prey« belohnt es, wenn ich die Freiheit, die es mir bietet, auch annehme. Die Spielwelt ist erfreulich interaktiv. Überall kann ich Dinge anfassen und manipulieren und mir so kreative Lösungen zum Überwinden von Hürden einfallen lassen. Häufig kommt man so auf Ideen, die das Spiel nicht explizit vorgesehen hat, die aber implizit in den Spielsystemen angelegt sind. So umgehe ich etwa eine verschlosse Tür, für die ich weder Schlüsselkarte noch ausreichenden Hack-Skill habe, indem ich über Simse und Kronleuchter klettere und eine Scheibe einschlage. Oder ich verwende die sogenannte GLOO-Kanone, die eine Art Bauschaum verschießt, um mir selbst Treppen zu schaffen, wo eigentlich keine sind. Besonders stolz war ich, als mir anfing zu dämmern, wie das Spiel funktioniert und wie interaktiv die Spielwelt ist: Einer Eingebung folgend versuchte ich, Kisten, die ich noch nicht anheben konnte, mittels Sprengung aus dem Weg zu katapultieren – und es funktionierte! Das Spiel steckt voll logischer Systeme, die nicht erwähnt werden, die aber durch Kreativität, Beobachtungsgabe und Experimentierfreude abgeleitet werden können.
Natürlich ist es in Wahrheit so, dass die meisten dieser Lösungen durchaus vom Entwickler bewusst angelegt wurden. Aber genau hier zeigt sich die Kunstfertigkeit von »Prey«: Dem Spiel gelingt es, es so aussehen zu lassen, als wären sie es nicht. Diese Designmaxime beginnt beim Leveldesign und wird damit fortgeführt, dass mich keine unsichtbare Hand des Entwicklers kleinteilig Schritt für Schritt führt, wie es viele andere Spiele machen. Stattdessen wird lediglich das nächste Fernziel angezeigt. Wenn ich auf dem Weg dorthin eine Hürde überwinde, dann immer, weil ich mich geschickt und klug angestellt habe und nicht, weil das Spiel es offensichtlich so vorsieht oder gar mitteilt, was zu tun ist. Die GLOO-Kanone etwa wurde nicht als Treppenbaumaschine eingeführt, sondern als Möglichkeit, Gegner lebendig zu zementieren. Sie ist auch nicht zentrales Spielelement oder gar Standardlösung für jedes Problem, sondern nur eines von vielen gleichberechtigten Werkzeugen, die auf Talos I zur Verfügung stehen. Am Ende treffe immer ich die Entscheidung.
Viel zu entdecken
Ebenfalls den Forscherdrang befriedigend sind die zahlreichen versteckten Nebenquests, die man lediglich entdecken kann, wenn man Talos I gründlich durchsucht. Ausrufezeichen, die schon aus der Ferne auf Quests hinweisen, existieren nicht. Weitere Glaubwürdigkeit erhält die Spielwelt dadurch, dass Quests nicht auf dem vorgesehenen Weg gelöst werden müssen. So sollte ich etwa Hinweise auf einen Whistleblower verfolgen, fand aber durch puren Zufall in einer ganz anderen Ecke der Station den Whistleblower selbst, versteckt in einem Frachtcontainer. Quest gelöst. Andere Spiele hätten an dieser Stelle verboten, den Container zu öffnen, bis die vorherigen Schritte der Quest abgearbeitet sind. Auch abseits von ausformulierten Quests ist die Spielwelt vollgestopft mit Dingen, die zu entdecken sind. Hier liegt eine weitere große Stärke von »Prey«: Das bedächtige Erkunden, das Umschauen in jedem Winkel und jeder Nische, die Detailfülle, gerade auch in rein optionalen Ecken der Station, macht einen Großteil der Faszination aus. Es wirkt niemals, als stoße das Spiel einen mit der Nase auf seine Geheimnisse. Stattdessen ist Talos I ein im weitesten Sinne natürlicher Ort.
Erwähnt werden muss auch die gelungene Mischung aus Enviromental Storytelling und Text- bzw. Audiologs, durch die »Prey« lebendig wird. Ich finde etwa Hinweise darauf, dass ein Mitglied der Crew versuchte, sich trotz mangelnder Schusswaffenausbildung mit einer Schrotflinte zu bewaffnen. Um das zu unterbinden, verriegelte die Security die Waffenschränkte in dem Bereich. Kurze Zeit später stelle ich fest, wie Recht die Sicherheitskräfte mit ihrer Einschätzung über die Waffentauglichkeit des Crewmitglieds hatten: Ich finde einen Toilettenraum, der aussieht, als hätte jemand unkontrolliert mit der GLOO-Kanone herumgeschossen. In einer Ecke liegt besagtes Crewmitglied, erstickt, die ersatzweise besorgte Bauschaumspritze noch neben sich und den Kopf vollständig in der ausgehärteten Masse eingeschlossen.
Nicht schon wieder Gegner
Einen Fehler darf man nicht begehen: »Prey« aufgrund der Egoperspektive für ein Spiel zu halten, in dem die Action eine zentrale Rolle einnimmt. Der Fokus liegt auf dem entschleunigten Erforschen der Station. Gegner tauchen zwar nicht selten auf, aber doch weit weniger häufig als etwa in Shootern. Dieser Aspekt wird durch die schwerfällige und zunächst gewöhnungsbedürftige Steuerung nochmals untermauert: Ich bin kein Rambo, sondern Wissenschaftler. Ich nehme stark an, dass die erfahrenen Arkane Studios hier nicht lediglich die Bedienung verhauen haben, sondern dies gezielt zur Fokussierung des Spielerlebnisses nutzen. Gerade zu Anfang wird so jeder Kampf zu einer Herausforderung, die idealerweise erneut mit Kreativität überwunden oder vermieden wird. Leider macht das den Kampf an einigen Stellen aber auch sehr mühselig, etwa, weil ich wieder und wieder gegen deutlich schnellere und stärkere Gegner scheitere. Gewinnt man gegen kleinere Gegner nach einiger Zeit relativ souverän, indem man Schleich- und Nahkampfangriffe einsetzt, so bleiben robustere Gegner Materialschlachten, bei denen man es kaum verhindern kann, viele Ressourcen in den Sieg investieren zu müssen.
Das Kampfsystem ist meine zentrale Kritik am Spiel. Arkane Studios gelingt es hier weniger, die Aliens als eine tödliche (aber spaßbringende) Bedrohung zu inszenieren, derer man sich nur mit Mühe und Not erwehren kann. Stattdessen sind viele der Begegnungen eher lästig und zu sehr geprägt von Trial & Error. Oft war ich froh, einen Bereich gesäubert zu haben, weil ich mich dann wieder ungestört den eigentlichen Attraktionen des Spiels zuwenden konnte. Zu negativ sollte man diesen Aspekt allerdings auch nicht bewerten: Ohne Gegner würde »Prey« auch etwas fehlen und wenn ich einen Raum im ersten Anlauf mit Geschicklichkeit leergeräumt habe, hatte das auch etwas befriedigendes. Zumal ich im Laufe des Spiels spürbar stärker geworden bin und Gegner, die mir anfangs regelmäßig zu schaffen machten, später kaum noch zugesetzt haben.
Fazit
»Prey« setzt in den ersten 60 bis 120 Minuten einen Lernprozess voraus. Ich musste erst begreifen, dass Talos I nicht lediglich Kulisse, sondern virtuelle Welt, und das Spiel trotz Egoperspektive kein geradliniger Shooter, ist. Ich brauchte eine Weile, um mich mit der schwerfälligen Steuerung und den mächtigen Gegnern zu arrangieren. Dann jedoch breitete sich vor mir eine Spiel aus, das zu den besten zählt, welches das an Highlights wahrlich nicht arme Jahr 2017 zu bieten hatte. Besonders lobend erwähnt werden muss noch einmal das Gameplay-getriebene Design mit seiner spielerischen Freiheit. Eine deutliche Empfehlung für Menschen, deren Träume vom Weltall die Realität bislang nicht erfüllen konnte, aber auch für alle Fans von Videospielen, die in Zeiten durchgeskripteter Call of Dutys noch nicht vergessen haben, dass dieses Medium ein Interaktives ist.