“Falls Spiele eine Zukunft haben, noch dazu eine, in der sie ihr Potenzial als definierendes Medium einer Ära erkennen, dann wird es eine sein, in der sie den Traum aufgeben, ein narratives Medium zu sein.”
Nur mal angenommen, Ian Bogost hätte mit seiner These recht. Mal angenommen, die aktuell dominante Erzählweise moderner Videospiele wäre lediglich ein Phänomen aus der Frühzeit eines Mediums, das noch auf der Suche nach seiner eigenen Identität ist und sich daher verständlicherweise „erwachseneren“ Methoden aus der es umgebenden Medienlandschaft bedient.
Was würde das bedeuten? Keine durchgeplanten, bis ins kleinste Detail ausgeklügelten Geschichten mehr? Aber wir alle wollen doch Denkwürdiges und Bedeutsames in unserem Spielen erleben! „Warum sind Spiele noch immer besessen von Geschichten?“, fragt sich Bogost weiter. Die Antwort ist so klar wie unabänderlich: Weil Geschichten für uns von unschätzbarem Wert auf der Suche nach Sinn und Struktur sind – „Rüstzeug fürs Leben“.
Nun ist es nicht so, als sollten Spiele nicht erzählen. Lediglich den Versuch, dies genauso oder so ähnlich wie nicht-interaktive Medien zu tun, bezeichnet Bogost als „ambitionslos“. Vielmehr sollte sich die Geschichte aus dem Kern jeder Spielerfahrung, der aktiven Beteiligung des Spielers, ergeben. Bedeutung sollte, wann immer möglich, (auch) durch Gameplay erzeugt werden statt bloß passiven Konsum. Im Folgenden werden einige mögliche Betrachtungsweisen eines solchen „narrativen Gameplays“ vorgestellt.
Emergente Geschichten
Zunächst braucht ein Spiel gar keine explizit ausformulierte Story, um dennoch emergent, aus sich selbst heraus, in einer „dramatischen“ Geschichte zu resultieren. Das gilt prinzipiell für alle, insbesondere aber auch für audiovisuell vollkommen abstrakte Spiele. Selbst aus einer Partie »Tetris« ergibt sich ohne Weiteres die Drei-Akt-Struktur einer klassischen Tragödie: vom anfänglichen Alltag des Steinestapelns (Exposition), über die allmähliche Zuspitzung in Komplexität und Geschwindigkeit (Entwicklung), bis hin zur unweigerlichen Anhäufung nicht zu behebender Fehler und dem letztendlichen Scheitern des spielenden Protagonisten (Katastrophe).
Gute Spiele werden in unserer Wahrnehmung zwangsläufig zu Geschichten. So lernen wir intuitiv. An besonders haarige Situationen und spannende Momente erinnern wir uns stärker, denn sie beinhalten in der Regel, im Gegensatz zu eindeutigen Erfolgen oder Niederlagen, besonders wertvolle Informationen für unser Verständnis des Spielsystems. Deshalb sind auch aus narrativer Sicht die Kernelemente systemischen Feedbacks so wichtig: Solides Matchmaking und die kausale Nachvollziehbarkeit des Spielverlaufs sorgen letztlich für bessere Geschichten in unseren Köpfen, die sich dauerhaft festsetzen.
Natürlich kann dieser Lernprozess zusätzlich durch eine geschickt gewählte Thematik optimiert werden. Kleine narrative Elemente wie ein „Schwerkämpfer“ oder eine „Schildkröte“ bringen Assoziationen mit sich, die bestimmte Erwartungen bezüglich ihres spielmechanischen Verhaltens wecken. So kann das Allgemeinwissen des Spielers genutzt werden, um ihm das (an sich zunächst stets abstrakte) Gameplay zugänglicher zu machen, ohne dass in irgendeiner Form eine explizite Story erzählt würde, an der sich das Spiel auszurichten hätte.
Dynamische Geschichten
Wenn es dann doch einmal etwas konkreter zugehen soll, ohne die Mechanik jedoch in ein allzu enges Korsett zu zwängen, können vordefinierte narrative „Bausteine“ dynamisch in den Spielverlauf eingepasst werden (wie etwa die Story-Ereignisse in »The Curious Expedition«). Je höher dabei die Granularität, desto flexibler bleibt das Gameplay. Der Übergang vom rein thematischen Unterbau zu dieser Form des narrativen Gameplays ist fließend. Im Grunde handelt es sich schlicht um „stark thematische“ Spiele mit stellenweise deutlicher ausformulierten Ereignissen als bei der sich rein emergent aus dem Gameplay ergebenden Erzählung. Dem Spieler wird also etwas Arbeit abgenommen, die er in das Übertragen seiner Spielerfahrung in eine lebhafte Geschichte investieren müsste.
In einigen Fällen simulieren diese Spiele ganze fiktive Welten. »King of Dragon Pass« basiert dabei lose auf einer literarischen Vorlage, »Dwarf Fortress« generiert bei jedem Start dynamisch eine eigene Historie. »This War of Mine« verfolgt auf der anderen Seite einen deutlich reduzierteren Ansatz und erzählt relativ konkrete, jedoch ebenfalls durch das Handeln des Spielers getriebene Geschichten über die Leiden der Zivilbevölkerung in einem Kriegsgebiet. »7 Grand Steps« unternimmt wiederum den Versuch, ein an sich zunächst sehr abstraktes Brettspiel immer wieder mit expliziten Ereignissen und primär narrativen Entscheidungen zu unterfüttern. Gemeinsam haben all diese Beispiele, dass die entstehende Erzählung stets auf spielerischen Entscheidungen und deren Konsequenzen basiert.
Explorative Geschichten
In diesem Punkt unterscheiden sich explorative von emergenten und dynamischen Geschichten. Sie werden deutlich stärker durch Autoren vorgegeben. Die Spieler erleben, erforschen und entdecken. Damit beeinflussen sie zwar nicht den Handlungsverlauf an sich, jedoch – im Idealfall – zumindest maßgeblich ihre Wahrnehmung desselben. Somit ist auch diese Form der Erzählung fundamental interaktiv.
Oft weisen Spiele dieser Kategorie eine starke Mystery-Komponente auf und verbergen zunächst entscheidende Teile ihrer Story oder halten diese generell vage. Dadurch regen sie den Spieler nicht nur zur Lösung der spielmechanischen Rätsel, sondern auf der darüber liegenden Ebene auch zum Entschlüsseln der narrativen Hintergründe an. Es handelt sich sozusagen um „Detektivspiele“, die nicht selten eher auf interpretatorischer als auf mechanischer Ebene fordern.
Das Konzept des „Environmental Storytelling“, also die Erschließung einer mit narrativen Elementen gespickten Spielwelt, steht beispielhaft für das explorative Erzählen und fand zuletzt immer mehr Beachtung in Game-Design-Kreisen. Dieses implizite Storytelling ist eine dem Medium nahe, weil interaktive, Alternative zu passiven Werkzeugen wie Zwischensequenzen, Texteinblendungen oder Dialogen. Es geht hier eben nicht darum, dem Spieler eine durchdefinierte Geschichte vorzusetzen, sondern es ihm zu ermöglichen, sich die Spielwelt und die Situation, in der er sich befindet, selbst zu erklären. Kurz: Kontext.
Ein sehr anschauliches Beispiel des explorativen Erzählens ist »Gone Home«. Es ist absolut konsequent in seiner Ausführung, denn der Spieler kann tatsächlich nichts anderes tun, als herumzulaufen und sich umzusehen. Zurecht hat es deshalb sowohl in der Industrie als auch der akademischen Welt beachtliche Wellen geschlagen – wenn auch eher als Experiment. Seine Konsequenz ist letztlich zugleich seine größte Schwäche. Die Mechanik taugt selbst am Maßstab zumindest einmalig interessanter „Wegwerfinteraktivität“ nicht viel. Herumlaufen allein reicht nicht aus, sondern ist am Ende nur das Äquivalent eines unnötig in die Länge gezogenen Umblätterns. Ian Bogost nennt die Gattung der „Walking Simulators“ in seinem Artikel dementsprechend eine „Übergangsform“. Im Übergang wohin? Nun, dazu zeigte zuletzt »What Remains of Edith Finch« einige bemerkenswerte Ansätze auf.
In jedem Fall sollte sich die interaktive Komponente der Erzählung nicht bloß darauf beschränken, Pacing und Kameraführung in die Hand von Amateuren, nämlich der Spieler, zu legen (oder ihnen bloß geistloses Knöpfchendrücken abzuverlangen). Sie muss selbst interessant sein und die Spielerfahrung signifikant bereichern.
Ein beidseitiger Appell
Also, liebe Spielemacher: Besinnt euch auf eure Stärken! Ihr könnt mehr, als bloß dem Film nachzueifern. Konzentriert euch zum Beispiel ganz auf euer Gameplay. Traut eurem Publikum die nötige Intelligenz zu, um aus abstrakten Resultaten emergente Geschichten zu formen und anhand dieser dazuzulernen. Ihr dürft ihm dabei auch gerne einige Anregungen in Form dynamisch integrierter narrativer Bausteine mit auf den Weg geben. Und selbst wenn ihr eine in sich geschlossene Erzählung präsentieren wollt, dann bindet eure Spieler dennoch ein. Nehmt sie ernst und fordert sie heraus. Nutzt eure Engine nicht bloß als bedeutungslosen Mittler, sondern als Werkzeug kollaborativen Storytellings zwischen Autor und Rezipient. Das ist es, was euer Medium auszeichnet und ihm einzigartiges Potenzial verleiht.
Und liebe Spieler auf der anderen Seite: Macht deutlich, dass ihr es wert seid, indem ihr eure Aufmerksamkeit nicht an den nächstbesten AAA-Hit verschwendet, der vor lauter Blendwerk, Effekthascherei und Massentauglichkeit das Medium nicht einen Meter weit trägt. Setzt euch Spielen nicht nur aus, sondern mit ihnen auseinander!