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Ghost of Tsushima: Eine Reise durch Japan

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Bevor im Herbst die neuen Konsolen auf den Markt kommen, darf Entwickler Sucker Punch mit Ghost of Tsushima die Ära der Playstation 4 beenden. Dabei überzeugt das letzte Exklusivspiel dieser Konsolengeneration mit einer Reise ins virtuelle Japan, die so von den Entwicklern der nur mäßig spannenden inFamous-Reihe nicht zu erwarten war. 

Ghost of Tsushima funktioniert auf den ersten Blick nach der Open-World-Standardformel. Nach einem dramatischen Einstieg, in dem die Mongolen auf der namensgebenden Insel einfallen und die japanischen Verteidiger vernichtend schlagen, finde ich mich in der Haut von Jin Sakai am Ufer eines von goldenen Bäumen umsäumten Sees wieder. Es ist nun an mir, den Widerstand gegen die Invasoren zu organisieren und Jins Onkel, Lord Shimura, aus den Händen der Eroberer zu befreien. Doch wie gehe ich das als letzter verbliebener Samurai am besten an?

Ich könnte mir die Karte schnappen, dort das nächste Icon markieren, rübergaloppieren und tun, was man halt so tut in Open Worlds. Zunächst habe ich das auch so gemacht: Schnell fand ich mich in der üblichen Tretmühle wieder und habe noch am zweiten Abend einen Artikel skizziert, der die Gleichförmigkeit aktueller Spiele beklagt. Sogar einen knalligen Titel hatte ich mir bereits überlegt: Ghost of Tsushima – McFlurry mit Kirschblüten. Denn genau wie beim Nachtisch des Fast Food Giganten scheinen Entwickler großer Spiele mehr und mehr eine immer gleiche Grundmasse zu nehmen, über die sie lediglich ein anderes Topping streuen. Du magst Griechenland? Assassin’s Creed Odyssey! Zombies? Days Gone! Fantasy? Shadow of War! Nun gibt es ein neues Topping: Samurais. Kirschblüten. Japanwochen auf der Playstation.

Weg mit der Karte

Ja, ich könnte Ghost of Tsushima auf diese Art und Weise spielen – und würde dabei das eigentliche Spiel verpassen. Denn am dritten Tag eröffnet sich mir unverhofft ein anderer Zugang und Ghost of Tsushima entblößt sich als faszinierende virtuelle Reise durch das romantisierte japanische Mittelalter. Der Trick: Lass doch einfach die blöde Karte weg.

Plötzlich stehe ich in einem Blütenmeer. Am Horizont läuft die weiße Farbe der Blumen auf die Berge zu. In der Tiefe rechts von mir branden die Wellen der Koreastraße an die Steilküste von Tsushima. Am Rand der Klippen sehe ich einen Leuchtturm. Dort will ich hin. Ich steige aufs Pferd doch ich hetze das arme Tier nicht. Stattdessen lasse ich den weißen Hengst gemütlich auf einem geschlungenen Pfad durch die Blumen schreiten, entferne mich sogar zunächst von meinem eigentlichen Ziel, als ich dem Weg folge.

Ghost of Tsushima ist eines dieser Spiele, die ich langsam genieße. Bei dem ich endlos viel Zeit damit verbringe, die farbenprächtige Welt auf mich wirken zu lassen. Ich betreibe hier über weite Strecken kein Gameplay im engeren Sinne, ich verbringe hier Urlaub. Ähnlich wie bei Breath of the Wild stelle ich mich auf einen Hügel, entdecke in der Ferne eine interessante Felsformation, eine schöne Brücke, ein buntes Farbenspiel und beschließe, dorthin zu gehen. Einfach, weil es da ist. Weil ich wissen will, was dort ist.

Und es ist immer etwas zu finden. Nie gehe ich leer aus. Am Rande des goldenen Sees verfasse ich ein Haiku. In einer heißen Quelle nehme ich ein erholsames Bad. Ich folge einem gefährlichen Pfad in die Berge, traue mich über zerfallende Brücken und schmale Trittstufen und finde einen Schrein, an dem ich meditieren kann. Ich lasse mich von Füchsen leiten oder versuche, Landschaftsmerkmale von Gemälden wiederzufinden.

Ferien auf Tsushima

All das ist immer mit einer kleinen Belohnung verbunden: Ein neues Stirnband. Ein Upgrade für die Lebenskraft. Ein kleiner Anhänger, der meine Defensive erhöht. Aber ich tue die Dinge nie für die Belohnung. Ich erforsche die Insel nicht mit dem Ziel, möglichst stark zu werden oder um eine To-Do-Liste abzuarbeiten. Ich tue das, weil ich Tsushima sehen will.

Natürlich ist so ein Sortiment an Nebenaktivitäten immer begrenzt. Auch in Ghost of Tsushima wiederholen sich die Dinge. Umfang- und abwechslungsreich genug, um nie zu langweilen, ist das Angebot aber dennoch. Dank der gemächlichen Spielweise stimmt auch die Dosierung: Ohne strikt der Karte zu folgen, passiert genügend, um mich nicht zu langweilen, aber mir wird auch Luft zum Atmen gelassen, damit ich mich nicht wie bei der Akkordarbeit fühle.

Dass die Karte in Ghost of Tsushima weitestgehend obsolet ist, ist vor allem Verdienst des Level- und Weltendesigns. Es ist nur schwer vorstellbar, die Karte in anderen Open Worlds zu ignorieren und sich vor allem anhand der Landschaft zu orientieren. Selbst das bereits erwähne Breath of the Wild verlässt sich auf eine gut sichtbare Farbcodierung in Orange und Blau, die immer wieder in der Spielwelt aufblitzt. Auf Tsushima hingegen gelingt die Navigation, weil die Welt mit Bedacht gestaltet wurde und Indikatoren für Entdeckbares immersiv und subtil angelegt sind. Entwickler Sucker Punch leitet auch hier die Schritte des Spielers, er bekommt es nur nicht so deutlich vor Augen geführt.

Ästhetik und Entschleunigung

Als ich gerade anfange, mich an Tsushima sattzusehen, ändert sich im zweiten Akt das Bild. Die Landschaft wird sumpfiger, statt gewöhnlicher Bauernhäuser entdecke ich Pfahlbauten und Holzstege. Ich sehe neue, beeindruckende Farben und Lichtstimmungen, Bodennebel zieht über die Tümpel und unbekannte Gegner lauern mir auf. Erneut bleibt mir nichts anderes übrig, als staunend durch die Landschaften reiten. So erforsche ich die Insel, lasse mich treiben und folge dem Wind.

Und das wortwörtlich: Setze ich doch einmal eine Wegmarkierung, etwa auf eine Hauptmission, kommt eine starke Brise auf. Bäume und Pflanzen wiegen sich hin und her, Blätter und Äste werden fortgeweht, Staub aufgewirbelt. Der clevere Einfall: Der Luftstrom weht immer in Richtung des Ziels. Anders als bei anderen Navigationsarten, die entweder meinen Blick zur Minimap ablenken (GTA) oder große, AR-artige Einblendungen in die Landschaft projizieren (FarCry 5, Watch Dogs), verstellt Ghost of Tsushimas GPS so nicht die Sicht auf die Spielwelt, lenkt mich nicht vom Sightseeing ab und auch die sorgsam aufgebaute Ästhetik bleibt erhalten.

Zwar muss zur eigentlichen Zielmarkierung tatsächlich kurz die Karte hervorgeholt werden, aber behutsam eingesetzt, ergibt sich daraus trotzdem immer ein Abenteuer. Ich darf eben nur nicht den Fehler begehen, die Karte als Autorität zu begreifen, die mich auf direktem Wege von Icon zu Icon leitet. Auf meiner Reise zu einer weit entfernten Quest komme ich so immer wieder vom Weg ab, entdecke neue, spannende Ausblicke und nehme so ganz nebenbei viele der optionalen Nebenaktivitäten mit.

Ghost of Tsushima wird so über weite Strecken vor allem zu einer sinnlichen Erfahrung, in der Gameplay beinahe zur Nebensache wird. Ungewöhnlich lange Perioden des Reisens, in denen lediglich die Landschaft auf mich wirkt, wechseln sich ab mit kurzen Episoden von Interaktion, Dialogen und Kampf. Zwar vergehen in der Realität zwischen einzelnen Gameplay-Elementen tatsächlich immer nur ein paar Minuten, doch im Vergleich zu sekündlich getakteten Titeln führt das dennoch zu einer merklichen Entschleunigung. Nach einem Kampf wandere ich deshalb eine Zeit am Strand entlang, klettere auf ein paar Felsen und schaue raus aufs Meer. Einfach, weil es da ist. Genau so stelle ich mir virtuelle Ferien vor.

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