Zockwork Orange

Das Geschäft mit dem Uncut-Wahn

Geschnittene Versionen sind minderwertig! Was bei Filmfreaks seit Jahrzehnten ehernes Gesetz ist, hat sich seit geraumer Zeit auch bei Zockern fest im Bewusstsein verankert – insbesondere bei Freunden von Shootern oder anderen Actionspielen. Diese massive Ablehnung hat gar nicht mal unbedingt etwas damit zu tun, dass Details oder Handlungsstränge in großem Umfang verloren gehen könnten, man will einfach aus Prinzip nicht bevormundet werden. Basta. Und wenn es eine Wolke in einem Super Mario Game ist, die entfernt wurde. Jemand wollte sie da haben und jetzt fehlt sie. Ein Kratzer im Kunststück, ein Makel im Meisterwerk – verursacht durch einen Banausen, der für ein Ressort zuständig ist, das einen als Erwachsenen nicht betreffen sollte. Dies ruft starkes Unverständnis und sehr emotional geführte Debatten hervor.

Ich selbst sehe das etwas entspannter, da mir viele Dinge vermutlich gar nicht auffallen würden. Zum Beispiel weiß ich bis heute nicht, ob ich von Fallout 3 eine geschnittene oder ungeschnittene Version gespielt habe. Ich vermute, dass sie ungeschnitten war, weil ich den Mutanten auch mal lustig die Rübe vom Hals schießen konnte. Aber hätte ich es überhaupt bemerkt, wenn dem nicht so gewesen wäre? Wenn der Mutant einfach umgefallen wäre? Vermutlich bin ich auf dem Gebiet des Mutantentötens nicht bewandert genug, als dass ich gedacht hätte: “Wie unrealistisch, eigentlich müsste jetzt der Kopf wegfliegen, da wurde bestimmt geschnitten, Betrug!”. Zumal man in Fallout 3 grundsätzlich ganz andere Sorgen hat. Ein wegfliegender Kopf beeinflusst meine Meinung zu dem gebotenen Spielerlebnis nicht im geringsten.

Aber das subjektive Erlebnis ist hier zweitrangig, denn falls etwas fehlt, ist dies ganz objektiv messbar. Über Mund-zu-Mund-Propaganda (neudeutsch: Blogs und Webforen) spricht sich das fehlende Feature rum und man ärgert sich über die Bevormundung, die man selbst möglicherweise nie bemerkt hätte. Da ist es wieder: das Prinzip, um das es geht. Die Furcht, etwas vorenthalten zu bekommen, wird zum Selbstzweck und zum Zwang, sich zu wehren und das repressive System auszuhebeln. Und da gibt es eine ganze Reihe Kriegsgewinnler, die einem hilfreich zur Seite stehen – nicht ganz uneigennützig, versteht sich.

Da wäre zum einen der Händler, der alles pauschal als “Uncut” auszeichnet. So als ob im Allgemeinen der Umkehrschluss zu “Geschnittene Versionen sind minderwertig” gelte: Was uncut ist, nimmt absolut kein Blatt vor den Mund, ist rebellisch, wild und per definitionem spielenswert. Dass es trotzdem der letzte Rotz sein kann, sollte eigentlich jeder wissen, der mal einen B-Movie gesehen hat. Warum sollte es bei Spielen anders sein? Egal!

Auch bei Heavy Rain wird dieses vermeintliche Prädikat missbraucht: Heavy Rain ist ein USK 16-Spiel, vergleichsweise harmlos also. Aber hey – es ist UNGESCHNITTEN! Mir ist nicht bekannt, dass Heavy Rain jemals bei der USK auf der Abschussliste stand. Wenn dem so gewesen wäre, hätte es wohl jetzt kaum eine 16er-Wertung bekommen. Wow, Heavy Rain total uncut! Kennt jemand die Cut-Version? Wird wohl wahnsinnige Sammlerpreise erzielen.

Ungeschnitten-nahtlos geht es weiter in der Nahrungskette: Der Paketdienst. Sehr beliebt ist bei den “UNCUT!!!11”-Importhändlern die Versandoption “DHL Eigenhändig”. Diese soll sicherstellen, dass kein minderjähriges Familienmitglied das schmutzige Paket (zuerst) in die Finger bekommt, indem eine persönliche Zustellung garantiert wird. Das lässt sich die Post einen stolzen Aufpreis kosten, der natürlich in der Regel an den Käufer weiter gegeben wird. Für ein DHL Spielpaket inkl. Eigenhändig kann man ca. 6 EUR veranschlagen. Die Übergabe sah dann bei mir so aus: DHL Mann: “Fabian?” – Ich: “Jo.” – Er: “OK, hier!”. Wie bei einem stinknormalen Paket, keine Ausweiskontrolle, nichts. Bei einem Freund von mir wurde ein Spiel mit “DHL Eigenhändig” einfach in den Briefkasten geworfen. Da weiß man doch, wofür man die Versandmondpreise zahlt. Die Sache ist nebenbei besonders absurd, da wir beide allein wohnen.

Auf der Strecke bleibt der Kunde: Verwirrt durch das ganze Cut-Uncut-Gezeter bestellt er sich vorsichtshalber das Spiel im Ausland – und hat mit inkompatiblen DLCs zu kämpfen. Hinterher stellt sich raus, dass die deutsche Version sich von der europäischen überhaupt nicht unterscheidet, aber wer kann das schon wissen? Die Verwirrung ist zurecht groß und der Diskurs dementsprechend aufgeheizt. Insbesondere mit dem Wissen, dass dank halbblinden Elektromarkt-Verkäuferinnen, Torrents und Schulhöfen die Jugend vor dem Ü18-Schmuddelkram eh nie hermetisch abgeriegelt werden kann. Aber mindestens ebenso nervig wie das jugendschutzgesetzliche Hickhack sind diejenigen, die einen Missstand ausnutzen, um aus ihm den großen Profit zu schlagen.

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