Alles Ansichtssache? 1

“Das ist halt meine Meinung!” So oder ähnlich wird immer wieder der schützende Schild über die eigenen Aussagen und Argumente gehalten. Natürlich sind davon nicht nur Diskussionen über Spiele betroffen, sondern auch solche über alle möglichen anderen Medien. Auf den ersten Blick scheint es in Kunst und Unterhaltung zuallererst und vor allem um die persönlichen Meinungen des Publikums zu gehen. Aufgrund der Jugend der Spielezunft, die gerade erst zaghaft mit dem Gießen eines theoretischen Fundaments begonnen hat, ist der Meinungs­schutz­faktor in diesem Feld jedoch besonders hoch.

»Mass Effect: Andromeda« beispielsweise bekam von den Spielern ebenso viele 10er-Wertungen wie 0er. Metacritic-Schnitt: 4,9. Irgendwo zwischen Überflieger und Rohrkrepierer. Vielerorts wird dieser Pluralismus im nächsten Schritt sogar gelobt: “Schön, dass es so viele verschiedene Meinungen gibt! Sonst wäre es ja langweilig!” Das ist einerseits vollkommen in Ordnung. Im privaten Raum, wo Selbstdarstellung, persönliche Erfahrung und gefühlsmäßiges Mögen regieren, soll es ruhig beliebig verschiedene Ansichten geben. Sobald es aber ums Begründen, Verteidigen und Argumentieren geht, sich also eine ernsthafte Diskussion entwickelt, sollte vom bloßen Meinen Abstand genommen und miteinander geredet werden statt aneinander vorbei. Andernfalls braucht man sich – ob als Entwickler, Kritiker oder schlicht Spielefan – gar nicht erst zu streiten.

Quo vadis, Diskussion?

Doch was dann? Wer hat denn nun recht, wenn es nicht mehr alle zugleich mit ihren teils vollkommen gegenläufigen Aussagen sein können? An dieser Stelle braucht es letztlich spezifische und komplexe Kriterien (ein Beispiel hier) über die jedoch an anderer Stelle noch genug zu diskutieren sein wird.

Zunächst gilt es, erst einmal die Sichtweise auf das Medium insgesamt zu objektivieren. Wobei dies nicht etwa durch die absurde Abstandnahme von jeglichen wertenden Aussagen bewerkstelligt werden sollte, sondern durch das Etablieren einer gemeinsamen Perspektive. Denn am Ende wird nur eine solche zu brauchbaren Ergebnissen führen, die den Gesamtdiskurs voranbringen.

Beim Versuch, Spiele sodann anhand des “Wertes” zu beurteilen, den sie dem Spieler über ihren Lebenszyklus hinweg vermitteln, fällt sofort auf, dass es sich hier um ein inhärent subjektives Modell handelt. Schließlich verändert sich dieser Wert – mal abgesehen von Ver­zerrungs­faktoren wie persönlichen Vorlieben, Medien­nostalgie und so weiter – allein schon anhand der jeweiligen Spiele­historie der betrachteten Person. Ein kleines Kind kann sich schon dafür begeistern, dass es eigenhändig etwas auf dem Bildschirm hin und her bewegen kann. Erfahrenen RPG-Veteranen ringen hingegen selbst aufwändige Open-World-Titel oft kaum mehr als ein Achselzucken ab.

In vielen Foren lassen sich solch diametrale Ansichten sogar direkt nebeneinander lesen: Da wird der neueste Ableger einer angesagten AAA-Reihe von User A mit “Macht total Spaß! Brillanter Flow! Mich stört echt gar nichts!” beschrieben, woraufhin B unmittelbar entgegnet: “Flaches Gameplay, fade Story, technische Ungereimtheiten, 4/10 Punkten!” Das Problem, wenn man dem Ganzen auf den Grund gehen will: Recht haben sie zunächst aus ihrer persönlichen Sicht beide.

Das Spektrum der “Game Literacy”

Um der rein persönlichen Vorgeschichte der Beteiligten etwas an Gewicht zu nehmen, braucht es also gewisser­maßen einen imaginären Dritten als Richter, durch dessen Augen das Spiel beurteilt werden kann. Dieser muss nun auf dem oben angedeuteten Spektrum zwischen “Spiele? Hä?!” und “Gestatten, Dr. Ludo – Spieleexperte” verortet werden. Neben den beiden Extremen findet sich ein dritter un­will­kür­lich­er Ansatzpunkt in der durch­schnitt­lichen “Game Literacy”.

Dieses Konzept, das zuletzt auch durch die Video-Reihe Extra Credits aufgegriffen wurde, umfasst nicht allein den spielerischen “Skill”, sondern ebenso über­geord­nete Fähigkeiten zur Analyse und Einordnung von Spielen im Kontext ihres soziokulturellen Umfeldes. Diese sind regelmäßig Gegenstand des akademischen Diskurses rund um Kommunikation, Bildung und Lernprozesse in der modernen Medienlandschaft. Unter anderem haben sich Tom Apperley und Catherine Beavis in “A Model for Critical Games Literacy” (2013) dazu einige Gedanken gemacht.

Objektivierung 1: “Mein Name ist Hase…”

Gehen wir also zunächst von einem unwissenden Richter aus. Er hat einen sehr unschuldigen Blick auf Spiele. Er kennt weder Genres noch deren Konventionen, noch ist er übersättigt davon, Jahr für Jahr die immer gleichen Kernmechanismen vorgesetzt zu bekommen. Ein wenig erinnert er an Conan O’Brien in seiner Rolle als “Clueless Gamer”. Er stellt zu allem, das ihm in einem Spiel begegnet ganz grundlegend vernünftige Fragen: “Was soll das? Ist das überhaupt interessant? Ist das eine wertvolle Verwendung meiner Lebenszeit? Warum soll ich noch 35 Tannenzapfen und 15 Kieselsteine sammeln?”

“Are we literally pushing a car through a desert? Why is this a game?”

Was er dank seines nicht über Jahrzehnte an alle möglichen Eigenheiten des Mediums gewöhnten Verstandes gewinnt, büßt er allerdings an Kompetenz mehr als ein. Er ist nicht fähig, einen Titel einzuordnen und kann nicht sagen, ob Fortschritte gegenüber vergleichbaren Spielen erkennbar sind. Er muss sich das Faszinosum interaktiver Unterhaltung immer wieder von Grund auf neu erklären, baut keine konsistente Sprache auf und ist auch nicht in der Lage, tiefgreifendere Aussagen zu treffen, die über obige Grundfragen menschlichen Zeitvertreibs hinaus gehen.

Auch wenn der Blick durch die Brille der Ahnungslosigkeit von Zeit zu Zeit helfen kann, den Wald vor lauter Bäumen wieder zu entdecken, wird eine Diskussion mit dem Unwissenden in der Praxis deshalb nicht sonderlich weit oder tief führen. Das gilt nicht nur aus Sicht von Kritikern, Designern und sonstigen Experten, sondern auch schon für jeden interessierten Laien, der das Spielen zu seinen wichtigeren Hobbys zählen würde.

Objektivierung 2: Durchschnittliche Spielebildung

Schalten wir also einen Gang höher. Unser zweiter Richter ist der Durch­schnitts­gamer. Er hat eine mittelmäßige Allgemein­bildung, was Spiele angeht. Er kennt sich in allen Genres ein wenig aus, aber in keinem so sehr, dass er es nicht mehr sehen könnte. Es ist davon auszugehen, dass weite Teile der Spieleindustrie sich nach diesem Stereo­typen richten. Schließlich können anhand seines Profils Vorhersagen darüber getroffen werden, was einem Großteil der Spielerschaft gefallen könnte.

Allerdings zieht sich diese Bewertungsgrundlage mittlerweile auch durch die Riegen der Kritiker, die in vielen Fällen durchaus auf eine potenziell größere Expertise zugreifen könnten, sich aber immer öfter gezwungen sehen, zwecks Klickmaximierung der breiten Masse nach dem Mund zu schreiben. Die meisten Spielewertungen – insbesondere solche sehr großer Plattformen und Magazine – sind daher oft eher Vermutungen darüber, welche Spiele am Markt Erfolg haben könnten.

An dieser Stelle zeigen sich dann auch die Nachteile des Ansatzes. Zwar können wir mit unserem Durchschnittsspieler auf einem ordentlichen Niveau über Spielmechanik, den Markt und größere Trends in der Entwicklung des Mediums diskutieren. Allerdings wird er sich dabei eher konservativ geben und auf Nummer sicher gehen. Er will sich lieber wohl und zu Hause fühlen, als Neuland zu entdecken. Daher wird er in aller Regel eine gut gemachte Fortsetzung mit visuellen Schauwerten einem neuartigen Indie-Titel, in den er sich erst einarbeiten müsste, vorziehen.

Automobilpionier Henry Ford wird gerne folgendes Zitat zugeschrieben: “Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde.” Das trifft die Geisteshaltung unseres Otto-Normal-Richters ziemlich gut. Doch was, wenn wir wirklich an Innovation und Fortschritt interessiert sind?

Objektivierung 3: Wissenschaft

Hier kommt die absolute Expertensicht ins Spiel, die natürlich nicht ohne weiteres von jedermann eingenommen werden kann. Schließlich kennt sich der entsprechende Richter auf seinem Gebiet bis ins kleinste Detail aus. Deshalb wird es auch verschiedene Spezialisten brauchen – ein jeder zuständig für seinen eigenen abgesteckten Bereich. Sie betrachten neue Spiele, die unter ihre Expertise fallen, wie wissenschaftliche Publikationen, wie Experimente, die eine These aufstellen und diese entweder durch ihr Funktionieren beweisen oder spezifische Probleme enthüllen, die sie widerlegen. Beides wird – kompetent durchgeführt – als wertvoller Beitrag angesehen.

Donald Knuth: “We should continually be striving to transform every art into a science: in the process, we advance the art.”

Mutlose AAA-Spiele hingegen sehen diese Richter als Werke an, die den aktuellen Forschungsstand bloß wiederkäuen und ihm nichts Neues hinzufügt – sprich als weitgehend wertlos. Statt über den potenziellen finanziellen Erfolg zu mutmaßen, sind sie vielmehr daran interessiert, was “wirklich funktioniert” und das Medium dauerhaft voranbringt. Sie werden dabei große Teile des Publikums und der Mitdiskutanten verlieren, da sie ihrer Zeit in aller Regel voraus sind und Spielsysteme aus fremd wirkenden Perspektiven betrachten.

Doch – wie an reiferen Medien zu beobachten – wird die Kunstform nur durch den geschärften Blick einiger weniger Designer, Kritiker, Akademiker und tief involvierter Hobbyisten ihre Identität festigen und langfristig auf zukunftsfähige Beine gestellt werden können. Nur so wird es der Industrie möglich sein, verlässlich funktionierende Spiele zu produzieren und nicht bloß im Dunkeln von einem Zufallstreffer zum nächsten zu tappen wie bisher. Wo ein “Ich sehe das aber anders!” nicht bloß ein “Das ist ja auch voll okay!” nach sich zieht, sondern eine gründliche Prüfung des theoretischen Unterbaus der betreffenden Diskussion, wird letztlich über die Zukunft des Mediums entschieden.

Fazit: Am Anfang steht die Objektivierung

Je nach persönlicher Intention lassen sich nun unterschiedliche Hand­lungs­empfehlungen aus all diesen Überlegungen ableiten. Zunächst einmal sollte sich jeder potenziell Urteilende darüber im Klaren sein, ob überhaupt Interesse an einem ernsthaften, progressiven Diskurs und dessen Ergebnissen besteht. Sollte dem so sein, wird relativ schnell klar werden, dass unkoordiniertes Drauflos­meinen und persönlich-emotionales Wertschätzen nicht weit führen. Stattdessen muss eine objektivierte Diskussions­grund­lage durch die kollektive Annahme einer gemeinsamen (an sich durchaus subjektiven) Perspektive geschaffen werden. Dazu ist ein Ausgangspunkt auf dem Spektrum der “Game Literacy” zu wählen.

Wie beschrieben wird der ahnungslose Spieler dabei auf lange Sicht kein brauchbares Modell abgeben. Bestenfalls lassen sich ihm von Zeit und Zeit einige pointierte Fragen und Denk­anstöße abringen. Mit dem Durch­schnitts­spieler lässt sich im nächsten Schritt schon halbwegs fruchtbar, wenn auch konservativ geprägt, diskutieren. Er eignet sich zudem hervorragend für die Zwecke der Marktforschung. Für selbige wird Experte “Dr. Ludo” wiederum vergleichsweise wenig übrig haben, denn ihm geht es primär um den intellektuellen Fortschritt der Kunstform Spiel.

In der Praxis wird sich für die meisten Designer, Entwickler und Kritiker daraus eine Art “goldener Mittelweg” zwischen den beiden letztgenannten Perspektiven ergeben. Dieser lässt sich je nach Präferenz einerseits eher in Richtung Popularität und finanziellem Erfolg (Objektivierung 2) oder andererseits mit Fokus auf Innovation und Forschung (Objektivierung 3) ausrichten sowie durch die gelegentliche Annahme der unbedarften Sichtweise (Objektivierung 1) verfeinern. Wichtig ist letztlich vor allem, sich innerhalb von Entwickler­studios, Redaktionen, auf Konferenzen und in sonstigen Diskussionsgruppen jeweils auf einen gemeinsamen Blickwinkel zu einigen, um sich selbst die produktive Verfolgung einer konsistenten Vision zu ermöglich.

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Fabian hat als Game-Designer immer etwas zu meckern. Aber er liebt Spiele. Ganz ehrlich!

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